"Ein Kind als "geisteskrank"
abzustempeln, ist "Stigmatisierung"[X]
und nicht Diagnostik.


Die Verabreichung eines
Psychopharmakons an ein Kind
ist "Giftmord", und keine Therapie"


[X] abwertende Brandmarkung/Kennzeichnung
Quelle: www.tumblr.com/tagged/thomas-szasz


Thomas Stephen Szasz
(1920 Budapest - 2012 in Manlius, New York)
US-amerikanischer Psychiater ungarischer Herkunft.
Er wurde bekannt durch seine Kritik
an den moralisch und "wissenschaftlichen" Grundlagen der Psychiatrie.

Er wird teilweise der so genannten Antipsychiatrie* zugerechnet und gilt als einer der Mitbegründer, was er strikt ablehnt und zurückweist,
zusammen mit Ronald David Laing*, (1927-89), britischer Psychiater und David Graham Cooper *1967 (1931-86), südafrikanischer Psychiater.
Weitere einfach hinzugerechnete Vertreter sind: Franco Basaglia (1924-80), italienischer Psychiater; Jan Foudraine (b.1929), niederländischer
Psychiater; Pierre-Felix Guattari (1930-92), französischer Psychiater; Gilles Deleuze (1925-95), französischer Philosoph;
Erving Goffman (1922-82), US-amerikanischer Soziologe.

"Im Jahre 1967 wurden meine Bemühungen, die moralische Legitimität der Allianz von Psychiatrie und Staat zu untergraben,
von einem schweren Rückschlag getroffen: die Begründer der Antipsychiatrie-Bewegung* durch David Cooper (1931-1986)
und Ronald David Laing (1927-1989). Statt die Abschaffung der institutionellen Psychiatrie zu betreiben, versuchten sie, eine
Psychiatrie nach ihren Vorstellungen zu etablieren, die sie Antipsychiatrie* nannten. Durch diese völlig irreführende Bezeichnung
lenkten sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst und von dem ab, was sie tatsächlich taten, nämlich neue Zwangsmittel anzuwenden
und durch entsprechende Ausreden zu rechtfertigen, die sie aus ihrer psychiatrischen Kompetenz und Autorität herleiteten.

Die Antipsychiatrie ist nichts anderes als eine neue Spielart der Psychiatrie:
Der Psychiater als Sachwalter der Gesundheitsbehörden ist ein Betrüger, und der Antipsychiater ist nichts anderes [1e].
Voltaires [1694-1778] berühmter Aphorismus "Gott, schütze mich vor meinen Freunden; um meine Feinde kümmere ich mich
schon selbst"
ist eine ziemlich treffende Beschreibung dessen, was als Nächstes geschah: Obwohl meine Kritik an der Allianz
zwischen Psychiatrie und Staat der Neuerfindung und Popularisierung des Begriffs "Antipsychiatrie" um zwei Jahrzehnte vorausging,
wurde ich als "Antipsychiater" verunglimpft, und meine Kritiker verloren keine Zeit, mich als den "führenden Antipsychiater" zu bezeichnen
und abzutun ... Wer anderen helfen will - ob mit religiösen oder medizinischen Mitteln - sollte niemals Gewalt anwenden. Mir ist kein
Antipsychiater bekannt, der dieses Prinzip anerkennt oder die darin implizierten Einschränkungen beherzigt. Wenn meine Arbeit der
Rubrik "Antipsychiatrie" zugeschlagen wird, wird sie dadurch ebenso effektiv und zuverlässig verraten und negiert, wie wenn man sie
der Rubrik "Psychiatrie" unterordnen würde. Meine Schriften sind weder dem Fachbereich der Psychiatrie noch dem der Antipsychiatrie
zuzuordnen. Sie beinhalten Konzeptanalyse und soziopolitische Kritik, befassen sich mit Bürgerrechten und entspringen dem
gesunden Menschenverstand. Deshalb habe ich Psychiatrie und Antipsychiatrie
mit gleichem Nachdruck abgelehnt und tue dies bis heute
.
"
[TQ Vorwort p 31f.]



Die Definition von Krankheit
Aus: T. Szasz: „Geisteskrankheit - ein moderner Mythos: Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens“
Übersetzer: Theo Kierdorf & Hildegard Höhr; Vorwort Fritz. B. Simon; Carl-Auer 1. Auflage 2013 (1961)
Anhang 2: Die Definition von Krankheit. Seite 304 - 318

1
Krankheit und Heilung sind so alt wie die menschliche Kultur. Seit Jahrtausenden versuchen Schamanen und Priester, Menschen zu helfen, mit allen möglichen Problemen fertig zu werden, von denen wir heute nur einige als Krankheiten bezeichnen. Die Unterscheidung zwischen Sünde und Krankheit sowie zwischen Glaubensheilung und medizinischer Behandlung bildete sich erst allmählich und über lange Zeit heraus, und sie ist im Geist und im Leben von Millionen von Menschen immer noch nicht abgeschlossen. Der wissenschaftlich-materialistische Ansatz medizinischer Heilung - eine in der westlichen Welt entstandene Idee - ist noch keine zweihundert Jahre alt.

Ursprünglich war der Arzt Privatunternehmer. In den Vereinigten Staaten haben sich die Bundesregierung und die einzelnen Staaten erst im 20. Jahrhundert in den Verkauf von Medikamenten eingeschaltet und angefangen, die ärztliche Praxis zu regulieren und Beschränkungen zu unterwerfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg (in der Sowjetunion schon früher) wurde das in der gesamten industrialisierten Welt ursprünglich kapitalistische System medizinischer Dienstleistungen in ein sozialistisches umgewandelt: Die Ärzte bezogen ihr Einkommen von diesem Zeitpunkt an nicht mehr vom Patienten selbst, sondern über ein staatlich reguliertes Versicherungssystem. Gleichzeitig wurde damit begonnen, immer mehr persönliche Gewohnheiten und Probleme - vom Rauchen über die Fettleibigkeit bis hin zur "Ungezogenheit" von Kindern - als Krankheiten zu definieren, und immer mehr Medikamente wurden aus dem freien Markt genommen und konnten nur noch auf Rezept gekauft werden und dies auch nur auf die Diagnose bestimmter Krankheiten hin und wenn die Betreffenden als "Patienten" bezeichnet wurden. So verwandelten sich die westlichen Gesellschaften zunächst von Theokratien in Demokratien und schließlich in Pharmakratien (Szasz 2001) [1].

Was sollte man als Krankheit bezeichnen und was nicht? Diese Frage ist für die gesamte Medizin und ganz besonders für die Psychiatrie schwer zu beantworten. Ärzte, Patienten, Politiker und das Volk haben sehr individuelle Vorstellungen über die Unterscheidung von Krankheiten und Nichtkrankheiten. Niemand von uns kann sich der Auseinandersetzung mit der Frage, wo man die Trennungslinie zwischen beiden ziehen sollte, und der Notwendigkeit, diesbezüglich eine Entscheidung zu treffen, entziehen. Die Frage muss zudem auf zwei unterschiedliche Weisen beantwortet werden, wobei eine dieser Antworten den Bedürfnissen der medizinischen Wissenschaft gerecht werden und die andere auf die Bedürfnisse der medizinischen Praxis und der Menschen, denen diese Praxis dient, eingehen muss.

Die medizinische Wissenschaft, ein Teil der Naturwissenschaft, befasst sich mit der empirischen Erforschung der materiellen Welt - im konkreten Fall mit der Erforschung des menschlichen Körpers -, und dabei beruft sie sich auf genau definierte Konzepte und Techniken, die sie strikt anwendet. Hingegen basiert die ärztliche Praxis zwar auf den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und auf Techniken, die auf dieser Grundlage entwickelt wurden, doch ist sie selbst keine Wissenschaft, sondern eine Art "Dienst am Menschen", dessen Gegenstand und Durchführung von ökonomischen, ideologischen, religiösen und politischen Interessen geprägt wird. Bei der Durchführung medizinischer Dienstleistungen wird das Beharren auf jener Präzision und Strenge, die im Rahmen der Wissenschaft üblich ist, als Starrheit und Mangel an Mitgefühl verurteilt.

Der Konflikt zwischen der Notwendigkeit von Präzision und Strenge in der Wissenschaft und der Notwendigkeit von Flexibilität und Mitgefühl in der ärztlichen Praxis spiegelt sich in unserer aktuellen Nosologie (Krankheitslehre) - einem Konglomerat aus genau bezeichneten Naturphänomenen und unpräzisen ökonomischen, ideologischen, politischen und sozialen Urteilen und Erscheinungen. Deshalb ist dieses Klassifikationssystem eine intellektuelle Peinlichkeit und lädt förmlich dazu ein, politisch-ökonomischen Schaden anzurichten. Wollen wir uns aus den Dilemmata der heutigen Praxis und Politik im Gesundheitswesen befreien, müssen wir anerkennen, dass zwei (oder mehr) Systeme der Definition und Klassifikation von Krankheiten erforderlich sind.

Naturwissenschaft hat in jedem Fall eine materielle Grundlage und beschäftigt sich mit dem Studium von Tatsachen - damit, wie die Dinge sind. Eine wissenschaftliche Erforschung und eine (natur-) wissenschaftlich fundierte Theorie nichtmaterieller "Wesenheiten" und moralischer Konzepte wie beispielsweise von Engeln und Teufeln, Seele und Geist, Tugend und Laster kann es nicht geben. Das bedeutet nicht automatisch, dass diese Dinge "nicht existieren". Sie "existieren", sind aber kein Teil der materiellen Welt. Wenn man sie studiert, erforscht man keine Tatsachen und denkt über sie nach, sondern man befasst sich mit Überzeugungen (Erklärungen), Erlebnissen (damit, wie sich bestimmte Dinge anfühlen), Werten (gut und schlecht) und gesellschaftlicher Gepflogenheiten (damit, welche Handlungen unter welchen Umständen als adäquat und als passend oder unpassend angesehen werden sollten).

Doch obwohl all dies allgemein bekannt ist, ignorieren, übersehen und verschleiern Medizinwissenschaftler und namhafte Publikationen ständig, dass wir den Krankheitsbegriff einerseits als wertneutralen wissenschaftlichen Begriff zur Beschreibung und Erklärung bestimmter Aspekte der materiellen und andererseits als Wertbefrachteten ethischen Begriff zur Identifikation, Beschönigung, Verdammung und Rechtfertigung (nicht-materieller) menschlicher Bestrebungen, Gesetze und Sitten benutzen und dass wir klar und ehrlich zwischen diesen beiden unterschiedlichen Bedeutungen und Verwendungsarten unterscheiden sollten.

2
Seit der Zeit des Hippokrates (460-380 v. Chr.) bis zum Zeitalter der Aufklärung, glaubten Ärzte und Philosophen, Krankheiten würden durch Störungen der vier Grundelemente, die sie "Körpersäfte" nannten - Blut, Schleim (Phlegma), gelbe Galle und schwarze Galle - verursacht. Jeder dieser Körpersäfte wurde mit einem wichtigen Organ des menschlichen Körpers assoziiert, so wie die damalige Anatomie - die sich stärker an der Astrologie als an den Resultaten des Sezierens von Toten orientierte - verstanden wurde. Blut wurde mit dem Herzen in Verbindung gebracht, Schleim mit der Milz. Die Behandlung bestand in der Anwendung von Methoden, die das Gleichgewicht der Körpersäfte wiederherstellen sollten.

Althergebrachte Vorstellungen lassen sich nur allmählich überwinden. Allerdings gibt es zwei Daten, die eindeutig den Beginn eines neuen Zeitalters hinsichtlich der Definition, der Identifikation und des Verständnisses körperlicher Krankheiten und ihrer physischen Grundlagen markieren. Im Jahre 1858 veröffentlichte der deutsche Pathologe Rudolf Virchow (1821-1902) seine Doktorarbeit mit dem Titel "Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre" (Berlin 1858) [2]. Im darauf folgenden Jahrhundert war der wissenschaftliche Maßstab für das Vorliegen einer Krankheit - sozusagen der "Goldstandard", an dem dies gemessen wurde - das Vorliegen einer körperlichen Läsion, die sich objektiv mithilfe anatomischer, physiologischer oder anderer physikalisch-chemischer Beobachtungen und Messungen nachweisen ließ. Im Jahre 1869 publizierte der russische Chemiker Dimitri Mendelejew (1834-1907) seine bahnbrechende Arbeit "Das natürliche System der chemischen Elemente" [3], in der er die Beziehung zwischen den Eigenschaften der chemischen Elemente und ihren Atomgewichten beschrieb. Durch diesen ersten Versuch, das Periodensystem der Elemente zu erfassen, wurde es nicht nur möglich, alle damals bekannten Elemente präzise zu identifizieren, sondern Mendelejew sagte mithilfe seiner Theorie auch die Entdeckung bis dahin unbekannter Elemente voraus.

Ich möchte an dieser Stelle der Definition des Vorliegens einer Krankheit aufgrund einer pathologischen Läsion und dem Periodensystem der Elemente ein drittes, vergleichbares Phänomen an die Seite stellen: den monetären Goldstandard. Warum? Weil diese drei Systeme Beispiele dafür sind, wie sich die Welt mithilfe präziser und objektiver Kriterien ordnen lässt, die von menschlichen Bedürfnissen und Wünschen, moralischen Urteilen oder politischer Macht unabhängig sind. Institutionen und Einzelne, die versuchen, die Kontrolle über unser Privatleben zu gewinnen - Kirche und Staat, Politiker und Ärzte -, haben zu allen Zeiten jede Unabhängigkeit von ihnen als Unverschämtheit empfunden, als unstatthafte Einmischung in ihre "heilige Pflicht", zu regieren und "dem Interesse der Allgemeinheit zu dienen". Es kann kaum überraschen, dass die Verlässlichkeit monetärer und medizinischer Standards von Anfang an gefährdet war. Von den antiken Despoten bis zu den politischen Führern moderner Demokratien haben die Herrschenden stets versucht, das Geldsystem ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Moderne therapeutische Staaten streben ein ähnliches Monopol über die Definition dessen, was Krankheiten sind, und über deren Behandlungen an (Szasz 1984) [4]

"Die Geburt der modernen wissenschaftsbasierten Medizin wird gewöhnlich auf das Erscheinungsjahr 1858 des
Buches
"Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre" [2] von Rudolf Virchow
(1821-1902) datiert. Emanuel Rubin und John L. Farber, Autoren des Lehrbuches "Pathology", schreiben dort:
"Rudolf Virchow, oft Vater der modernen Pathologie genannt, (...) sah die Basis aller Krankheiten in einer Verletzung der kleinsten
lebenden Einheit im Körper, der Zelle. Über ein Jahrhundert später basiert die klinische und experimentelle Pathologie
immer noch auf Virchows "Cellularpathologie"
[2a].

Das maßgebende amerikanische Pathologielehrbuch "Robbins Basic Pathology"definiert Krankheit
im Sinne der Arbeit von Pathologen:
"Pathologen nutzen viele verschieden molekulare, mikrobiologische und immunologische
Techniken, um die in Zellen, Geweben und Organen stattfindenden biochemischen, strukturellen und funktionalen Veränderungen
zu verstehen. Um eine Diagnose erstellen und eine Therapie planen zu können, untersuchen sie, ob die unmittelbar sichtbaren und
die mikroskopischen Erscheinungen (Morphologie) der Zellen und Gewebe verändert sind und ob biochemische Veränderungen
von Körperflüssigkeiten (wie Blut und Urin) vorliegen"
[2b].

Der Pathologe benutzt den Begriff "Krankheit" (engl. disease) als Prädikat physischer Objekte -
also von Zellen, Geweben, Organen und Körpern. Pathologielehrbücher beschreiben körperliche Störungen
bei Lebenden und Toten, jedoch keine Störungen, die eine Person, ihren Geist oder ihr Verhalten betreffen.
Rene Leriche (1879-1955), der Begründer der modernen Gefäßchirurgie, beobachtete treffend:
"Um Krankheit
definieren zu können, muss man sie dehumanisieren. (...) Am unwichtigsten ist bei einer Krankheit letztlich der Mensch"
[2c].

Für die Praxis der Pathologie und für Krankheit als wissenschaftlichen Begriff spielt die Person als der potentiell
Leidende keine Rolle. Versteht man die ärztliche Praxis hingegen als einen Dienst am Menschen, ist die Person
in Gestalt des Patienten sehr wichtig. Warum? Weil die Praxis der westlichen Medizin von einem ethischen
Grundsatz geprägt ist -
primum non nocere! ("Vor allem schade nicht!") - und von der Voraussetzung ausgeht,
dass der Patient eine medizinische Diagnose und Behandlung aussuchen und akzeptieren oder ablehnen kann.
Die psychiatrische Praxis hingegen orientiert sich an der Prämisse, weil der psychisch Kranke "für sich und
andere gefährlich" sein könne, sei es die moralische und berufliche Pflicht des Psychiaters,
ihn vor sich selbst und die Gesellschaft vor ihm zu schützen.

Den wissenschaftlichen Kriterien der Pathologie zufolge ist eine Krankheit ein materielles Phänomen,
ein Produkt der Körpers wie Urin. Eine Diagnose hingegen ist kein materielles Phänomen und kein Produkt
des Körpers, sondern ein Produkt einer Person, in der Regel eines Arztes, so wie ein Kunstwerk das Produkt
einer "Künstler" genannten Person ist. Eine Krankheit zu haben ist nicht identisch mit dem Verharren in der
Krankenrolle: Nicht alle kranken Menschen sind Patienten, und nicht alle Patienten sind krank. Trotzdem
vermischen und verwechseln Ärzte, Politiker, die Presse und die Öffentlichkeit
diese beiden Kategorien immer wieder [1b] ...

Dabei läuft der Argumentationspfad etwa wie folgt: Der menschliche Körper ist eine biologische Maschine,
die aus Organe genannten Teilen besteht - beispielsweise Nieren, Lunge und Leber. Alle diese Organe
haben eine "natürliche Funktion", und wenn eines von ihnen seine Funktion nicht erfüllt, leiden wir an einer
Krankheit.
Wenn wir menschliche Probleme als Anzeichen für das Vorliegen einer Gehirnerkrankung definieren und gleichzeitig
die Macht haben, unsere Definition einer ganzen Gesellschaft aufzuzwingen, dann sind menschliche Probleme Gehirnkrankheiten,
selbst wenn keine physischen Befunde auf eine Gehirnerkrankung hinweisen. Und wenn man uns diese Auffassung "abgekauft" hat,
können wir psychische Krankheiten behandeln, als wären sie Gehirnerkrankungen
...

Vielmehr ist dies ein Buch über Psychiatrie - ein Buch, das sich damit beschäftigt, was Menschen,
und speziell Psychiater und Patienten, einander angetan haben [1c]. Trotzdem lesen viele Kritiker das,
was ich geschrieben habe, falsch und übersehen, dass es mir darum geht, die psychischen Krankheiten
und die Psychiatrie von einem medizinischen ein ein sprachlich-rhetorisches Phänomen zu verwandeln."


[Szasz - TQ: Vorwort Seite 23f, 25, 26]


ZITATE:
Karl Kraus / Die Diagnose >>>


3
Moderne Gesellschaften sind stark von den Naturwissenschaften und den aus ihnen resultierenden Technologien abhängig. Deshalb haben moderne Staaten - mit einigen wenigen interessanten, wenn auch unbedeutenden Ausnahmen wie der des Lyssenkoismus [5] in der Sowjetunion und der "arischen Physik" im nationalsozialistischen Deutschland -, davon abgesehen, ihre Macht zu nutzen, um objektive Kriterien und empirische wissenschaftliche Methoden aus der Welt zu schaffen. Allerdings haben sich die modernen westlichen Staaten in den Bereichen der Währung und der Medizin keine derartige Zurückhaltung auferlegt. Ganz im Gegenteil: Sie haben sowohl den monetären Goldstandard als auch den "medizinischen Goldstandard" abgeschafft bzw. vernichtet. Warum? Weil diese Bereiche beispielhaft veranschaulichen, dass es möglich ist, unsere Welt nach präzisen und objektiven Kriterien, unabhängig von menschlichen Wünschen und Begierden, moralischen Urteilen oder politischer Macht zu organisieren. Die so geordneten Dinge sind integrale Bestandteile des Alltagslebens; sie zählen sogar zu den wichtigsten Aspekten unseres Lebens. Sie wirken sich auf Religion, Rechtswesen, Ökonomie und Politik aus, sind aber unabhängig von ihnen.

Im Falle einer Währung mit Golddeckung kann der Staat anders als bei einem so genanntem Fiat-Geld [6] basierenden Währungssystem (das von der Zentralbank per Dekret quasi "aus dem Nichts geschaffen" wird), nicht einfach die Druckpresse anwerfen und den Wert der so gedruckten Geldscheine mit einer entsprechenden Gültigkeitserklärung garantieren. Seit der Französischen Revolution [1789 bis 1799] und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs [1914-18] war der Goldstandard ein unverzichtbares Element des Limited-Gouvernement-Prinzips [Prinzip der beschränkten Staatsgewalt]. Vielleicht noch stärker als das parlamentarische System oder der Föderalismus und ein System der Gewaltenteilung symbolisiert er, dass die macht der Regierung nicht nur streng begrenzt war, sondern dass der Staat diese Begrenztheit auch respektierte.

Der Unterschied zwischen dem Läsionsstandard für Krankheiten und dem Fiat-Standard für (psychische) Krankheiten ähnelt dem Unterschied zwischen dem monetären Goldstandard und dem Papiergeld-Fiat-Standard. Der virchowsche Standard basiert zwingend auf biologisch-physikalischen Kriterien, was das medizinische System daran hindert, seinen Geltungsbereich und damit seine Macht beliebig und nach eigenem Gutdünken auszudehnen. Weder Ärzte noch Patienten noch Politiker noch andere interessierte Parteien können durch sprachliche Manipulationen Krankheiten kreieren. Neue Krankheiten können nicht erfunden, sondern müssen entdeckt werden. Hingegen ermöglicht es der flexible psychopathologische Standard für Krankheiten medizinischen und politischen Autoritäten und sogar der öffentlichen Meinung, nach Belieben zu definieren, was als Krankheit anzusehen ist und was nicht; zu diesem Zweck werden unerwünschte Verhaltensweisen mit diagnostischen Etiketten versehen.

Etwa zwischen 1850 und 1914 wurden der virchowsche Standard für Krankheiten und der monetäre Goldstandard in weiten Kreisen als unverzichtbare Elemente einer wissenschaftlich fundierten medizinischen Praxis bzw. einer fundierten Basis der Ökonomie angesehen: Sie lieferten den Kontext für die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und für die Entwicklung liberaler Demokratien, die auf der Freiheit des Einzelnen, dem Recht auf Eigentum und freien Märkten basierten.

Die Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Standards hängt von Vereinbarungen und Autorität ab, die Aufrechterhaltung moralischer und legaler Standards von Tradition und Macht. Zu definieren, was Krankheit (und Behandlung) ist, war lange Ärzten vorbehalten. Heute ist es größtenteils Sache des therapeutischen Staates (Szasz 1970) [7]. Natürlich haben Menschen in allen Lebensbereichen das "Recht", alles als Krankheit (oder Behandlung) zu bezeichnen, was sie wollen. Nehmen sie dieses "Recht" jedoch tatsächlich wahr, verstoßen sie möglicherweise gegen geltende Gesetze - beispielsweise gegen Gesetze über den Drogenkonsum.

Wir wollen die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennen. Die medizinische Praxis ist ein Monopol der Bundesregierung, keine Wissenschaft. Nur wer eine entsprechende staatliche Lizenz hat, darf sich "Arzt" nennen, und nur ihm ist es erlaubt, Behandlungen durchzuführen, die der Staat als ärztliche Praktiken definiert hat. In ihrem Umgang mit Patienten müssen sich Ärzte strikt an Regeln und Vorschriften halten, die "Standards beruflicher Praxis" genannt werden, und sie dürfen ihren Patienten nur Mittel verschreiben, die den staatlichen Vorschriften entsprechen. Verstöße gegen diese Regularien sind kriminelle Handlungen, die hart bestraft werden. Ich habe vorgeschlagen diese Situation "Monomedizin" zu nennen (Szasz 1990, p. 160) [8].

Monetäre Standards und Krankheitsstandards wirken sich auf das Alltagsleben von Menschen direkter und umfassender aus als wissenschaftliche Standards. Wir brauchen an dieser Stelle nicht die wechselhafte Geschichte der auf Edelmetallen basierenden monetären Standards zu rekapitulieren (Yeager 1996) [9]. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, dass die Verringerung des Wertes einer Währung durch das Prägen von Münzen mit verringertem Edelmetallanteil und vergrößertem Basismetallanteil schon vor Tausenden von Jahren gebräuchlich war. Papiergeld eignet sich natürlich noch viel besser zur "Schöpfung" von Geldwert, weil das Produkt selbst - da es aus Papier besteht - so preiswert ist. John Maynard Keynes [1883-1946] schreibt in seinem klassischen Werk "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" : "Lenin war gewiss im Recht. Es gibt kein feineres und kein sicheres Mittel, die bestehenden Grundlagen der Gesellschaft umzustürzen, als die Vernichtung der Währung. Dieser Vorgang stellt alle geheimen Kräfte der Wirtschaftsgesetze in den Dienst der Zerstörung, und zwar in einer Weise, die nicht einer unter Millionen richtig zu erkennen imstande ist" (Keynes 1920/1922, S. 192) [10].

In meinem Buch "Pharmacracy ["Pharmawahn"], Medicine and Politics in America" (2001) [1] habe ich gezeigt, dass lange vor Virchows Definition eines präzisen pathologischen Standards für Krankheiten dieser Standard durch eine Inflation ["Aufblasen"] diagnostischer Neuprägungen untergraben wurde, die insbesondere durch die Bedürfnisse des im 18. Jahrhundert entstandenen medizinischen Spezialfachs der "Irrenärzte" verursacht wurde. Ich benutze das Wort "untergraben" ganz bewusst, weil die psychiatrischen Pioniere des 19. Jahrhunderts keinen eigenen, nicht auf pathologischen Phänomenen basierenden Standard für Krankheiten schufen, sondern ihre professionelle Legitimität als "wissenschaftlich" arbeitende Ärzte herauszustreichen suchten, indem sie sich (vermeintlich) strikt an Virchows Läsionsstandard orientierten: Sie verstanden Neurologie und Psychiatrie als eng miteinander verbundene medizinische Fachgebiete, sahen sich selbst als Neuropsychiater und erfanden bestimmte medizinisch klingende Bezeichnungen (die sie "Diagnosen" nannten), beispielsweise "Masturbation" und "Homosexualität". Anschließend verwechselten sie auch noch den Begriff Diagnose mit dem Begriff Krankheit und behaupteten, sie hätten neue Gehirnkrankheiten entdeckt. Natürlich war das nicht der Fall. Tatsächlich medikalisierten sie menschliche Probleme, die man bislang im religiösen Kontext gesehen hatte, indem sie diese Sünden und Verbrechen - beispielsweise Selbstmord, Selbstmisshandlung und Selbstmedikation - in Krankheiten verwandelten.

4
Rudolf Virchow hat den pathologischen Standard für Krankheiten nicht aus dem Nichts geschaffen. Seine Leistung besteht darin, ein Konzept und ein Kriterium präzise formuliert zu haben, das sich zur damaligen Zeit schon seit über einem Jahrhundert in der Entwicklung befand. Der Medizinhistoriker Roy Sydney Porter [1946-2002] schreibt: "Das Bestreben, Verrücktheit als körperliches Problem darzustellen, ist am systematischsten in den Lehren von Hermann Boerhaave [1668-1738] dokumentiert, einem einflussreichen Professor für Medizin aus Leiden" (Porter 2004, p. 308) [11]. Dies wirkte zu jener Zeit so, als sei es wissenschaftlich fundiert, hatte aber mit Wissenschaft tatsächlich nicht das Geringste zu tun. Vielmehr war es ein Ausdruck der "aufgeklärten" Revolte gegen religiöse Naturerklärungen und gegen den noch vorherrschenden humanistisch-positivistischen Zeitgeist. In diesem Geiste erklärte Pierre Jean Georges Cabanis (1757-1808), ein berühmter französischer Arzt und glühender Jakobiner [12]: "Das Gehirn scheidet Gedanken aus wie die Leber Galle". Und der niederländische Physiologe Jakob Moleschott (1822-1893) bezog sich in einem ähnlichen Vergleich auf die Nierenfunktion: "Das Gehirn scheidet Gedanken aus wie die Nieren Urin" (Science Week 2004) [13]

"Roy Sydney Porter [1946-2002], ein bekannter englischer Medizinhistoriker, begann sein nach seinem Tode
veröffentlichtes Buch "Madness: A Brief History" (dt.: Wahnsinn eine kleine Kulturgeschichte) [11a] wie folgt:
"In seinen zwei Büchern "The Myth of mental Illness" [1c] und "The Manufacture of Madness" [1d] behauptet Thomas Szasz,
"Geisteskrankheit" gebe es gar nicht; sie sei kein Naturphänomen, sondern ein von Menschen erschaffener Mythos"
[11a].
Porter erklärt weiter: "[Szasz] schreibt: "Psychiatrie wird üblicherweise als Spezialfach der Medizin definiert, das sich mit der
Diagnose und Behandlung von Geisteskrankheiten befasst. Ich behaupte, dass diese immer noch weitgehend akzeptierte Definition
die Psychiatrie in die Kategorie der Pseudowissenschaften verweist, auf einer Stufe mit Alchemie und Astrologie." Wie kommt Szasz
zu dieser Behauptung? Der Grund ist einfach:
"So etwas wie "Geisteskrankheit" gibt es gar nicht." Für Szasz, der an dieser Meinung
seit vierzig Jahren festhält, ist
Geisteskrankheit nicht eine Erkrankung, deren Natur durch die Wissenschaft erhellt werden kann,
sondern vielmehr ein von Psychiatern zum eigenen beruflichen Vorteil ersonnener Mythos, der von der Gesellschaft mitgetragen wird,
weil er einfache Lösungen für schwierige Menschen rechtfertigt. Über die Jahrhunderte,
so Szasz, hätten Ärzte und ihre Anhänger
aus persönlichem Interesse an einer "Herstellung von Krankheit" mitgewirkt, indem sie sozial randständige, auffällige oder schwierige
Menschen psychiatrischen Kategorien zuordneten.
In dieser Orgie der Stigmatisierung seien jene Psychiater, die organische Gründe
als Ursache von "Geisteskrankheit" nennen, nicht weniger zu kritisieren als Freud und seine Nachfolger, deren Erfindung des Unbewussten
der Metaphysik des Geistes und der Theologie der Seele neues Leben eingehaucht hat. Jegliche Erwartung, im menschlichen Körper
oder Geist die Ätiologie von Geisteskrankheiten zu entdecken - von einer freudschen Unterwelt ganz zu schweigen -, ist, nach Ansicht
von Szasz, ein Zuordnungsfehler oder schlichte Arglist: "
Geisteskrankheit" und das "Unbewusste" seien nichts als (schlecht gewählte)
Metaphern.
Um solch haltloses Gerede zu konkretisieren, hätten Psychiater die Psyche entweder naiv verbildlicht oder sich eines
fragwürdigen beruflichen Herrschaftsanspruchs bedient, der Kenntnisse vortäuscht, wo keine vorhanden sind. In Anbetracht dieser
Tatsache würden alle herkömmlichen Beschreibungen des Wahnsinns und seiner Geschichte durch eine Vielzahl
unzulässiger Annahmen und questions mal posées [Falsch gestellter Fragen] verfälscht" [11a]


[Szasz - TQ: Vorwort Seite 29f]


Heutige Biologen, Neurowissenschaftler, Neurophysiologen und Psychiater sind der festen Überzeugung, dass Geist und Gehirn identisch sind. Daniel Clement Dennett [b.1942], Professor für Philosophie an der Tufts University [Somerville, Massachusetts, USA], erklärt: "Der Geist ist das Gehirn" (Dennett 1994) [14]. Alan John Hobson [b.1933], Professor für Psychiatrie an der Harvard University [Cambridge, Massachusetts, USA], schreibt: "Gehirn und Geist sind eins. (...) Sie sind eine einzige Wesenheit. (...) Um diese Einheit anzudeuten, setze ich den Begriff "Gehirn-Geist" in Anführungszeichen" (Hobson 1994, pp. 6-7) [15]. Christian de Duve [1917-2013] Nobelpreisträger für Biologie [1974], schreibt: "Der Geist befindet sich im Kopf, und er wird vom Gehirn unterhalten. (...) Die unauflösliche Verbindung beider führt zu der Auffassung, dass Gedanken, Gefühle und alle übrigen Manifestationen des Geistes Resultate der Aktivitäten des Gehirns sind. diese Vorstellung ist nicht neu. Das Gleiche wurde schon vor zweihundert Jahren gesagt" (de Duve 2002. p. 208) [16].

Kennzeichnend für de Duves Schriften ist ein Gemisch aus katholischer Apologetik und kollektivistisch-positivistischem Leugnen individueller Verantwortlichkeit. Er beruft sich beifällig darauf, dass mittlerweile auch die Kirche die Evolution als Tatsache ansehe: "Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die katholische Kirche, die sich gegen die Vorstellung der Evolution lange gewehrt hat, sich seit Neuestem den faktischen Beweisen beugt" (a. a. O., p. 200) [16], als vermöchte diese Billigung die Erklärungsmacht des Darwinismus zu verstärken. Er fährt mit einigen selbstgefälligen Spitzfindigkeiten fort, indem er beispielsweise schreibt: "Sowohl die moralische Verantwortung als auch die ethische Besorgnis ist heute globalisiert; so gibt es im Bereich des Umweltschutzes und bioethischer Schutzmaßnahmen Weltorganisationen und Weltkongresse im Überfluss. Dies stützt den Eindruck, dass die Menschheit zu einem Supraorganismus geworden ist, bestehend aus einer großen Zahl von Einzelorganen, der durch ein ständig zunehmendes Geflecht integrativer Kommunikationen weiter wächst" (ebd., Kursivsetzung durch den Autor). Nachdem er auf die oben zitieren Äußerungen von Cabanis und Moleschott verwiesen hat, nach denen der Geist vom Gehirn "abgesondert" wird, erklärt de Duve abschließend: "Wie könnte man ihnen dies vorwerfen? Die unbestreitbaren Beweise liegen vor (...)" (a. a. O., p. 209) [16].

Beweise wofür? Dafür, dass der Geist genauso vom Gehirn "abgesondert" wird wie Galle und Urin von Leber und Nieren? Das ist offensichtlicher Unsinn. Psychiater bezeichnen manisch-depressive Störungen und Schizophrenie, die paradigmatischen psychischen Krankheiten, als "Stimmungsstörungen" und "Denkstörungen". Denken und Stimmung sind, anders als Galle oder Urin, nicht materiell. Psychiater können sie nicht unmittelbar beobachten. Vielmehr erschließen sie die "Stimmungsstörungen" oder "Denkstörungen" ihrer Klienten aus Beobachtungen des Verhaltens, und zwar insbesondere des verbalen und sozialen Verhaltens. Samuel H. Barondes [17], Professor und Leiter des Center for Neurobiology and Psychiatry an der University of California in San Francisco, gibt zu, dass er sich nicht an eine materialistische Definition (psychischer) Krankheiten gebunden fühlen möchte. Er schreibt:

"Da es in diesem Artikel in erster Linie um psychische Krankheiten geht, sollte von Anfang an Konsens darüber bestehen, dass solche Krankheiten nicht existieren. Obgleich diese Aussage als eine Selbstverständlichkeit erscheinen mag, ist sie immer noch eine Ursache für Verwirrung und ein Gegenstand heftiger Diskussionen
(Szasz 1961) [TQ]. Beispielsweise gibt es eine Abneigung dagegen, einen Menschen als psychisch krank zu bezeichnen, weil die Grenze zwischen Krankheit und Normalität nicht klar definiert ist. Im Übrigen gehen die Meinungen auseinander, ob "normal" ein Äquivalent zu "durchschnittlich" oder zu "ideal" ist. Außer Frage steht, dass es Verhaltensmuster gibt, die für einen Menschen und die mit ihm Interagierenden sehr unangenehm sein können, und dass einige dieser Muster so dysfunktional sind, dass es als adäquat erscheinen muss, sie als Krankheiten zu bezeichnen" (Barondes 1990, p. 1709, Kursivsetzung durch den Autor) [17].

Verhalten ist zwar "real", aber nicht materiell - also kein "Ding". Manische Depression und Schizophrenie in ihrer Eigenschaft als Stimmungs- und Denkstörung sind in einer Liste von Krankheiten wie Hepatitis und Urämie, also von Störungen der Leber und der Nieren, fehl am Platz. Wenn wir Bezeichnungen für psychische Krankheiten als Bezeichnungen für Gehirnerkrankungen verstehen, wie viele Ärzte es tun, dann müssten diese Störungen auf einer Liste von Krankheiten wie multipler Sklerose und Schlaganfall erfasst werden, nicht auf einer, die auch Pädophilie und Pyromanie enthält.

"Auch wenn es rein intuitiv noch so plausibel erscheinen mag, dass es eine Krankheit des Geistes nicht geben kann,
steht die Vorstellung, dass psychische Krankheit kein medizinisches Problem ist, jenem der Öffentlichkeit "anerzogenen"
psychischen Dogma entgegen, demzufolge die Psychiatrie ein Zweig der Medizin und eine psychische Krankheit eine
Krankheit des Gehirns ist, und sie widerspricht auch der unablässigen medizinisch-politischen Propaganda.
Wenn jemand mich sagen hört, dass es eine psychische Krankheit nicht gibt, antwortet der Betreffende wahrscheinlich:
"Aber ich kenne jemanden, bei dem eine psychische Krankheit diagnostiziert wurde, und dann stellte sich heraus,
dass er einen Gehirntumor hatte. Irgendwann werden Psychiater aufgrund der Fortschritte der medizinischen Technik
nachweisen können, dass alle psychischen Krankheiten in Wahrheit körperliche Krankheiten sind".
Doch selbst wenn dass einmal gelingen sollte, würde es meine Auffassung nicht widerlegen, dass der Begriff
"Geisteskrankheit" oder "psychische Krankheit" eine Metapher [eine rhetorische Figur] ist. Meine Auffassung
würde dadurch sogar bestätigt: Wenn ein Arzt feststellt, dass ein zuvor als psychisch krank diagnostizierter Patient
tatsächlich an einer physischen Erkrankung des Gehirns leidet, entdeckt er damit, dass die Diagnose, die dem Patienten
vorher gestellt wurde, falsch war. Er litt gar nicht an einer psychischen Krankheit, sondern er litt und leidet immer noch
an einer körperlichen Krankheit. Die falsche Diagnose beweist keineswegs, dass der Begriff "Geisteskrankheit" oder
"psychische Krankheit" sich auf eine bestimmte Klasse von Gehirnerkrankungen bezieht ...

Würden alle "Störungen", die heute "psychische Krankheiten" genannt werden, als Gehirnerkrankungen identifiziert,
wäre die Vorstellung von einer psychischen Krankheit überflüssig und völlig inhaltsleer. Doch da der Begriff die Urteile
einiger Menschen über das (schlechte) Benehmen anderer Menschen
beinhaltet, geschieht das genaue Gegenteil:
Die Geschichte der Psychiatrie ist die Geschichte einer ständig länger werdenden Liste "psychischer Störungen".


[Szasz - TQ: Vorwort Seite 16f]


5

Die Heilung des Körpers (Medizin) und die Heilung der Seele (Religion) sind etablierte gesellschaftliche Phänomene, die durch Sitten, Gebräuche und Gesetze legitimiert werden. Menschen sind keine körperlosen Objekte, sondern buchstäblich verkörperte oder inkarnierte Wesen. Webster's Dictionary definiert das Verb "verkörpern" als "dinglich werden" und "inkarnieren" als "Fleisch produzieren". Zur Zeit der Herrschaft der Religion "inkarnierte" sich der Teufel in Form von Menschen, die als "besessen" bezeichnet wurden. Das Christentum sperrte Gott in den Körper eines Menschen ein, der "Jesus" genannt wurde. Als die Medizin die Religion als wichtigste mit der Heilung des Körpers befasste Institution ablöste (wobei sie die spirituelle Heilung der Religion überließ), wurde die Verrücktheit als körperliche Krankheit wiedergeboren. Diese Metamorphose kommt deutlich in den Schriften von Benjamin Rush (1746-1813) zum Ausdruck, dem "Vater" der amerikanischen Psychiatrie.

Rush war nicht nur praktizierender Arzt, sondern auch ein Mann der Aufklärung, jemand, der sich für einen Wissenschaftler heilt. Er wusste nicht, was die seiner Fürsorge anvertrauten Verrückten plagte. Als "wissenschaftlicher" Arzt nahm er an, dass alle seine Patienten - und das waren sehr viele Menschen, die niemand anderes Patienten waren - unter körperlichen Krankheiten litten. Seine folgenden Äußerungen sprechen Bände: "Lügen ist eine körperliche Krankheit. (...) Selbstmord ist Verrücktheit" Rush 1812/1962, p. 350) [18].

Pathologische Veränderungen im Körper und insbesondere im Nervensystem können zweifellos abnorme Verhaltensweisen verursachen. Insofern ist es nicht völlig unsinnig anzunehmen, dass abnorme Verhaltensweisen auf pathologischen Veränderungen im Körper beruhen. Wie wir wissen, hat die medizinische Forschung einige Belege für diese Annahme geliefert - beispielsweise in Fällen in denen nachgewiesen wurde, dass "psychische Störungen" Folgen von Infektionen, Stoffwechselstörungen oder Nährstoffdefiziten sind.

Doch die Kriterien dafür, welche Verhaltensweisen als abnorm anzusehen sind, sind kultureller, ethischer, religiöser und juristischer, nicht jedoch medizinischer oder wissenschaftlicher Art. Deshalb ist es von vornherein absurd, wenn man versucht, abnorme Verhaltensweisen generell mit der Behauptung zu erklären, sie seien auf Gehirnerkrankungen zurückzuführen. Das so entstandene Dilemma wurde durch die Schaffung des Konzepts der Psychopathologie überwunden, eine Kategorie, in der Krankheiten zusammengefasst wurden, die auf (metaphorischen) "psychischen Läsionen" beruhten. Während Pathologen und Bakteriologen gegen Ende des 19. Jahrhunderts damit beschäftigt waren, neue somatische Pathologien zu entdecken und zu beschreiben, "entdeckten" und beschrieben die Psychiater jener Zeit neue Psychopathologien, die angeblich alle somatische Erkrankungen des zentralen Nervensystems waren.

Einer der wichtigsten Vertreter der Kunst der Neuerfindung psychischer Krankheiten war Baron Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), ein deutschstämmiger Psychiater, der als Professor der Psychiatrie nacheinander an den Universitäten Strassburg, Graz und Wien wirkte. Das Buch, das Krafft-Ebing weltberühmt machte, hatte den Titel "Psychopathia Sexualis" [19] und seine Erstauflage erschien 1886. Krafft-Ebing war ein früher Vertreter der Praxis, mithilfe der lateinischen Sprache und eines Arztdiploms bis zu jenem Zeitpunkt für sündig gehaltene Verhaltensweisen in Krankheiten umzuwandeln. Psychiater klassifizierten damals unter Berufung auf ihre Fachautorität sexuelle Perversionen als "Zerebralneurosen", und Juristen, Politiker und die Öffentlichkeit akzeptierten diese neu definierten Krankheiten nur zu gerne als tatsächlich existent: So wurde die moderne Sexologie zu einem festen Bestandteil der Medizin und der sich neu formierenden psychiatrischen Wissenschaft (Krafft-Ebing 1886) [19]. Sigmund Freud [1856-1939] weitete Krafft-Ebings Pathologisierung von Verhalten über das Sexualverhalten hinaus auf das Alltagsverhalten aus. Zwar verstand Freud "Neurosen" als motivierte Verhaltensweisen, doch hinderte ihn das nicht, darauf zu beharren, dass sie trotzdem "richtige" Krankheiten seien.

Heute wird die selbstbezüglichste und naivste Verwechslung einer Metapher mit dem, was sie beinhaltet, als medizinische Entdeckung angesehen. Alvin Francis Poussaint [b. 1934], Professor der Psychiatrie an der Harvard Medical School, schreibt: "Nach meiner Auffassung ist extremer Rassismus eine schwere psychische Krankheit, weil es sich dabei um eine Wahnstörung handelt" (Paussaint 2000, pp. 23-25 [20]

Frank Tallis, ein britischer Psychologe, der am psychiatrischen Institut des King' College in London Neurowissenschaften lehrt und Autor des Buches "Love Sick: Love as a Mental Illness" [21] ist, erklärt: "Liebeskrank zu sein kann sogar tödlich wirken, etwa dann, wenn Zurückweisung und unerwiderte Liebe das Selbstmordrisiko vergrößern. (...) Es gibt Studien, die belegen, dass bei Menschen, die sich verlieben und sich in dieses Gefühl hineinsteigern, der Serotoninspiegel sinkt. (...) Auch Medikamente können in solch einem fall nützlich sein" (Tallis, zitiert in Waters 2005) [21a].

Andere Liebesforscher berichten: "Der MRI-Scan zeigt, dass Liebe bestimmte Regionen im Belohnungssystem des Gehirns aktiviert und gleichzeitig die Aktivität in Systemen, die bei der Entwicklung negativer Urteile eine Rolle spielen, verringert. (...) Am stärksten waren die Teile des Gehirns aktiviert, die auf Oxytocin und Vasopressin ansprechen" (Dobson, Templeton 2005) [22].

Psychiatrische Erklärungen für so genannte abnorme Verhaltensweisen sollten uns dazu anspornen, uns eingehender damit zu befassen, was wir für eine Erklärung halten. Erklärt es die so genannte Transsubstantiation [Wesensverwandlung; ("Die Fleischwerdung Christi" Anm. d. Übers.)], sie als Wunder zu bezeichnen? Erklärt es Pädophilie, sie als psychische Krankheit zu bezeichnen? Vielleicht ist unsere Vorstellung von Erklärung, wie wir den Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch benutzen, durch unsere tief sitzende Arroganz und unsere modischen Vorurteile geprägt. Der ungarische Begriff für "Erklärung" legt nahe, dass dies häufig der Fall sein könnte.

Das ungarische Wort für "Ungarisch" ist magyar, und dies ist gleichzeitig die Wurzel des ungarischen Worts für "Erklärung", magyarázat. "Erklären" heißt im Ungarischen megmagyaráz, und "unerklärbar" megmagyarázhatatlan, und das bedeutet wörtlich übersetzt: "Man kann es auf Ungarisch nicht sagen". Die Aufforderung, etwas klar zu sagen, lautet: mond (beszély) magyarul - "Sag es auf Ungarisch". Den Ungarn ist jedoch gar nicht klar, dass ihr Wort für "Erklärung" und somit auch ihr entsprechendes Konzept sprachlich so egozentrisch ist. Vielleicht muss man sich in eine andere Kultur begeben und sich ein Interesse an den Idiosynkrasien [„Eigentümlichkeit“] der eigenen Muttersprache erhalten, um solche semantischen Merkwürdigkeiten gebührend würdigen zu können.

Für Ungarn wäre demnach eine Erklärung von was auch immer gleichbedeutend mit "Es auf Ungarisch sagen", als ob es - was immer "es" sein mag -, für sie in einer anderen Sprache nicht zu verstehen wäre, weil das entscheidende Element der Erklärung fehlen würde. Für uns heute ist ein Verhalten erst dann erklärt, wenn es in Begriffen wie "Gehirn", "psychische Krankheit", "Dopamin" und "Medikamenten" ausgedrückt wird. Wird es in simplem Englisch oder Deutsch ausgedrückt, so gilt dies als nicht wissenschaftlich, nicht selbsterklärend, nicht "wahr".

"Ich möchte an dieser Stelle ein Kindheitserlebnis erwähnen, das mich sehr beeinflusst hat und für mich
beim Schreiben des Buches "The Myth of Mental Illness" sehr wichtig war. Als ich in den 1920er Jahren
in Budapest aufwuchs, hörte ich vom tragischen Schicksal eines berühmten ungarischen Geburtshelfers,
Ignaz Semmelweis (1818-1865). ... Semmelweis entdeckte die Ursache des Kindbettfiebers, bevor man
Bakterien als Krankheitserreger identifiziert hatte. Er formulierte seine Erkenntnisse zwar etwas unhöflich,
aber durchaus zutreffend: Die Ursache des Kindbettfiebers seien die schmutzigen Hände der Ärzte ...

INFOS: Statistik Glossar & Allerlei >>> öffne und gehe zu "Semmelweis und -Reflex"

Die Lebensgeschichte des Dr. Semmelweis bewegte mich zutiefst - wie seine Entdeckung von seinen Ärztekollegen
nicht anerkannt wurde, weil das von ihm empfohlene Verfahren (Händewaschen in chloriertem Wasser) ihnen zu
zeitaufwendig und mühsam war, und wie er später inhaftiert wurde und schließlich in einem Irrenhaus starb.
Diese Geschichte hat mich schon früh gelehrt,
dass es gefährlich sein kann, unrecht zu haben,
und dass es tödlich sein kann, recht zu haben,
wenn die Gesellschaft das Falsche,
was die Mehrheit für richtig hält,
als die Wahrheit ansieht.

Dieses Prinzip ist besonders wichtig, wenn es um unzutreffende "Wahrheiten" geht, die ein wichtiger Bestandteil
der Glaubenssätze einer ganzen Gesellschaft sind und die ökonomisch und existentiell wichtige und allgemein
gebräuchliche Praktiken stützen. In früheren Zeiten waren grundlegende unzutreffende Wahrheiten in der Regel
religiöser Natur. Heute sind sie hauptsächlich medizinischer Art. Was ich durch das Schicksal von Semmelweis
gelernt habe, hat mir gute Dienste geleistet
"

[Szasz - TQ: Vorwort Seite 20f]


6
Medizinwissenschaftler benötigen eine Art Goldstandard für Krankheiten - eine klare, objektive Abgrenzung zwischen Krankheit und Nichtkrankheit. Praktizierende Ärzte, Patienten, Politiker und die Öffentlichkeit sind eher an einem Fiat-Standard für Krankheiten ["ohne wissenschaftlicher Deckung", "pseudowissenschaftlich"] interessiert, der nicht durch objektive Kriterien eingeschränkt wird, einer Abgrenzung zwischen Krankheit und Nichtkrankheit, die sich im Einklang mit wechselnden ökonomischen, ideologischen und politischen Interessen und Moden verändern lässt. Aufgrund dieser unterschiedlichen Interessenslagen geht es praktisch um zwei Kategorien von Krankheiten: Die eine umfasst nur somatische pathologische Phänomene, die andere enthält ein Gemisch der erstgenannten und vieler verschiedener menschlicher Zustände, die nichts mit einer somatischen Pathologie zu tun haben. Die beiden Systeme verhalten sich parasitisch [abhängig, schmarotzend] zueinander. Elastische [Gummibandartige] Kriterien für Krankheiten erleichtern es Medizinwissenschaftlern, sich ideologische und ökonomische Unterstützung der Regierung und der Industrie zu sichern, sie gefährden aber andererseits ihre wissenschaftliche Integrität. Ärzte, Patienten, Politiker und die Öffentlichkeit erhalten das Plazet ["Es gefällt", Einverständnis] der Wissenschaft, ihre ökonomischen und existentiellen Interessen mittels pseudomedizinischen Methoden zu befriedigen, doch büßen sie auf diese Weise ihre Fähigkeit ein, klar über Krankheiten und ihre Behandlung nachzudenken.

Der Ausdruck "laissez faire, laissez passer" ("die Dinge geschehen lassen, sie vorübergehen lassen") wurde im 18. Jahrhundert formuliert und war eine Aufforderung französischer Physiokraten [23] an die Regierung ihres Landes, sich nicht in den freien Handel einzumischen. Die erste Hälfte dieses Ausdrucks wurde zum Slogan aller Befürworter freier Märkte. Zwar ist der Ausdruck laissez faire mittlerweile zu einem festen Bestandteil der englischen (und auch deutschen) Sprache geworden, doch ist die praktische Anwendung des darin zum Ausdruck kommenden Grundsatzes - insbesondere in der Medizin - mittlerweile passé. Alle modernen Staaten sind dirigistische [lenkend, reglementierend], therapeutische Staaten. Die Medizin ist zu einem festen Bestandteil der politischen Ökonomie und sogar deren wichtigster Teil geworden. Die moderne Psychiatrie hat im Rechtssystem, im Familienrecht und im Strafvollzugssystem einen festen Platz und ist keineswegs ein Bestandteil der Medizin. Wissenschaftliche Kriterien für Krankheiten spielen nur in Zeitschriften und Lehrbüchern der allgemeinen Pathologie und der Pathologien der verschiedenen Organsysteme eine Rolle, beispielsweise in der Dermatopathologie und in der Neuropathologie.

Es sollte uns nicht erstaunen, dass der moderne medizinische Experte, insbesondere wenn er auch Experte für Philosophie und medizinische Ethik ist, den Goldstandard für Krankheiten ebenso wie jeden anderen diesbezüglichen Standard gering schätzt. Die Definition einer klaren Grenze zwischen Krankheit und Nichtkrankheiten abzulehnen, ist zum Markenzeichen der heutigen "progressiven" medizinischen Philosophen geworden. Germund Hesslow [b.1949], Professor der Neurowissenschaft und außerordentlicher Professor an der Universität zu Lund in Schweden fragt: "Brauchen wir ein Konzept der Krankheit?" und beantwortet diese Frage selbst wie folgt: "Die Frage nach Gesundheit/Krankheit ist irrelevant - wir brauchen eigentlich nicht zu wissen, ob jemand eine Krankheit hat oder nicht, und folglich brauchen wir auch keine Definition dessen, was eine Krankheit ist" (Hesslow 1993, p. 3; Kursivsetzung durch den Autor) [24]. Diese Äußerung lässt sich durchaus als Manifest der Pharmaindustrie und des therapeutischen Staates verstehen.

Die alten Quacksalber [25] boten Pseudokuren zur Behandlung realer Krankheiten feil. Die neuen Quacksalber bieten Pseudokrankheiten an, um chemische Ruhigstellung und medizinische Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen.

Die alten Quacksalber waren politisch harmlos: sie konnten nur dann Schaden anrichten, wenn diejenigen, denen sie ihre Dienste anboten, das Angebotene annahmen.

Die neuen Quacksalber sind eine ernste Gefahr für die Freiheit des Individuums und für die persönliche Verantwortung: Sie sind Agenten des therapeutischen Staates, die Menschen sowohl mit als auch ohne deren Einwilligung schaden können. Theokratie ist die Allianz der Religion mit dem Staat, Pharmakratie die Allianz der Medizin mit dem Staat.


Ivan Illich - Die etablierte Medizin - medizinisches Establishment >>>

"In Unkenntnis der soeben beschriebenen Zusammenhänge
und Überlegungen fragen mich Interviewer immer wieder:

"Wie kann ein Psychiater sagen, dass es keine psychischen Krankheiten gibt?
Welche Erlebnisse haben Sie zu einer so ungewöhnlichen Sichtweise gebracht?
Wann und warum haben Sie Ihre Auffassung über psychische Krankheiten verändert?


Ich versuche dann - meist erfolglos - zu erklären, dass ich keine ungewöhnlichen Dinge erlebt habe,
das ich nicht "geforscht" habe, dass ich nichts entdeckt und auch nicht ursprünglich an die Existenz
psychischer Krankheiten geglaubt und dies später revidiert habe. Ich hätte vielmehr nichts weiter getan,
als eine populäre Unwahrheit und ihre weitreichenden ökonomischen, politischen und sozialen Konsequenzen
ans Licht zu bringen, und aufzuzeigen, dass die Psychiatrie auf zwei zutiefst unmoralischen forensischen Praktiken
basiert: der gerichtlichen Verfügung einer Sicherheitsverwahrung (engl.: civil commitment) und der Feststellung
von Schuldunfähigkeit
(engl.: insanity defense). Im Einklang mit diesen Schlussfolgerungen lehnte ich die verlogene
Rhetorik der Diagnose-Krankheit-Behandlungs-Medizin ab, mied das massiv auf Zwang und Ausflüchten
basierende Instrumentarium der "Psychiatrie" genannten Institution und beschränkte meine eigene
praktische Arbeit auf einvernehmliche psychiatrische Beziehungen zu Erwachsenen - also auf
vertrauliche Gespräche von der Art, die man konventionell als "Psychotherapie" bezeichnet.

[Szasz - TQ: Vorwort Seite 22]



"Dass das psychiatrische Establishment meine Kritik am Konzept der psychischen Krankheit zurückweist,
das Beharren auf der Anwendung von Zwang als Mittel zur Förderung der Heilung hinstellt und das Zurück-
greifen auf Ausflüchte als einen Akt menschlicher Güte verstanden wissen will, war für meine Arbeit keine
Gefahr. Die heutigen "biologisch orientierten" Psychiater akzeptieren sogar stillschweigend, dass psychische
Krankheiten keine Gehirnerkrankungen sind und nicht sein können. Denn sobald die mutmaßliche Krankheit
zu einer erwiesenen Krankheit wird, braucht sie nicht mehr als mentale Störung klassifiziert zu werden und
kann als körperliche Krankheit gelten - und falls sich ein solcher Beweis nicht findet, wird die psychische
Störung zur Nichtkrankheit ... Zur Zeit der Allianz von Kirche und Staat akzeptieren die Menschen
theologische Rechtfertigungen für staatlich sanktionierten Zwang. Im Rahmen der heutigen Allianz
von Medizin und Staat akzeptieren die Menschen therapeutische Rechtfertigungen für vom Staat
angeordnete Zwangsmaßnahmen. So wurde vor 200 Jahren die Psychiatrie zu einem Werkzeug
staatlichen Zwangs. Aus dem gleichen Grund besteht heute die Gefahr, dass sich die
gesamte Medizin von einer persönlichen Therapie
in politische Tyrannei verwandelt
".


[Szasz - TQ: Vorwort Seite 32f]


TQ-Textquelle:

Thomas Stephen Szasz: "Geisteskrankheit - ein moderner Mythos: Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens" - "The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory of Personal Conduct" (1974, 1961) aktualisierte und erweiterte Ausgabe 2010. Übersetzer: Theo Kierdorf & Hildegard Höhr; Vorwort Fritz. B. Simon; Carl-Auer 1. Auflage 2013. In: Anhang 2: "Die Definition von Krankheit" Seite 304 - 318

T. S. Szasz: "Defining Disease: The Gold Standard of Disease versus the Fiat Standard of Diagnosis" The Independent Review. A Journal of Political Economy 2006/Vol.10/3: 325-336.
www.independent.org/publications/tir/article.asp?a=55


Quellen, Ergänzungen:

[1] T. S. Szasz: "Pharmacracy: Medicine and Politics in America" Syracuse University Press 2001
[1a] T. S. Szasz: "Psychiatry and the control of dangerousness: on the apotropaic function of the term “mental illness”"J Med Ethics 2003;29:227-230
[1b] T. S. Szasz: "Diagnosis are not diseases" The Lancet 199. Volume 338, Issue 8782, pp 1574-1576
[1c] T. S. Szasz: "
The Myth of Mental Illness: Foundations of a Theory of Personal Conduct" p. XII. New York (Hoeber-Harper) 1961
[1d] T. S. Szasz: "The Manufacture of Madness: A Comparative Study of the Inquisition and the Mental Health Movement" Harper & Row 1970, reprint ed. Syracuse University Press. 1997, dt. "Die Fabrikation des Wahnsinns" Walter Verlag1974
[1e] T. S. Szasz: "Antipsychiatry: Quackery Squared" Syracuse University Press 2009


[2]
Rudolf Virchow (1821-1902): „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ (20 Vorlesungen im Februar, März und April 1858 im Pathologisches Institut Berlin) Olms Hildesheim 1966
[2a] E. Rubin, J. L. Farber: "Pathology" Philadelphia Lippincott 1994
[2b] V. Kumar, A. K. Abbas, N. Fausto, r. N. Mitchell (eds.): "Robbins Basic Pathology" 8th ed. Philadelphia (Saunders/Elsevier) 2007
[2c] Zitiert in Georges Canguilhem (1904-1995, frz. Arzt, Philosoph, Epistemolge): "On the Normal and the Pathological" Boston (Reidel) 1978; "Le normal et le pathologique" medizinische Dissertation von 1943; dt. "Das Normale und das Pathologische", München: Hanser 1974

Helmut Rumpler, Helmut Denk (Hgg.), Christine Ottner (Red.): „Carl Freiherr von Rokitansky (1804 -1878, Restaurator der „neuen“ Humoralpathologie) - Pathologe, Politiker, Philosoph, Gründer der Wiener Medizinischen Schule des 19. Jahrhunderts“ BÖHLAU 2005, Gedenkschrift zum 200. Geburtstag

Alfred Pischinger (1899-1983), Hartmut Heine (b.1941), Otto Bergsmann (1922-2004), Felix Perger (b.1921): „ Das System der Grundregulation – Grundlagen für eine medizinbiologische Theorie der Medizin“ 8. Aufl. HAUG 1990 (1975)

Hartmut Heine (b.1941): „Lehrbuch der biologischen Medizin – Grundlagen und Systematik“ HIPPOKRATES 1991


Shirley Ayad, Ray Boot Handford, Martin Humphries, Karl Kadler, Adrian Shuttleworth: „The Extracellular Matrix“ School of Biological Sciences, University of Manchester, Manchester, UK. Factsbook 2nd Edition. Academic Press 1998 (1994)

Siehe dazu Homepage Leistungen: 8.
Neuraltherapie & Zahn-Störfelder & NICO Silent Inflammation & MAPS>>>

[3] Das Periodensystem der Elemente stellt alle chemischen Elemente mit steigender Kernladung (Ordnungszahl) und entsprechend ihrer chemischen Eigenschaften eingeteilt in Perioden sowie Haupt- und Nebengruppen dar. Es wurde 1869 unabhängig voneinander und fast identisch von zwei Chemikern, zunächst von dem Russen Dimitri Mendelejew (1834–1907) und wenige Monate später von dem Deutschen Lothar Meyer (1830–1895) aufgestellt. Quelle: Internet

[4]
T. S. Szasz: "Therapeutic State: Psychiatry in the Mirror of Current Events" Prometheus Books UK (März 1984)

[5] Der Lyssenkoismus war eine von dem russischen Agrarwissenschaftler Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976) begründete pseudowissenschaftliche Theorie, die unter anderem auf den Lamarckismus aufbaute. Das zentrale Postulat des Lyssenkoismus lautete, dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht durch Gene, sondern nur durch Umweltbedingungen bestimmt würden. Lyssenkos Theorien wurden vom stalinistischen Regime als valide angesehen und gefördert, wodurch es zu Missernten und Verschärfung der Hungersnot kam. Quelle: Internet

[6] Fiat-Geld (Fiat Money, lat. fiat: "es werde", "es geschehe", engl. fiat: Ermächtigung, Gebot) ist ein Objekt ohne intrinsischen Wert, das als Tauschmittel dient. Die Tauschfunktion wird oftmals durch die Erklärung zum gesetzlichen Zahlungsmittel sichergestellt. Das Gegenteil von Fiat-Geld ist Warengeld, das z.B. als Tabak, Reis, Gold oder Silber neben dem äußeren Tauschwert auch einen intrinsische Wert hat. Quelle: Internet

[7]
T. S. Szasz: "The Manufacture of Madness: A Comparative Study of the Inquisition and the Mental Health Movement" New York Harper & Row 1970. Reprinted Syracuse Univ. Press 1997 . Deutsch: "Die Fabrikation des Wahnsinns" Walter Verlag 1974

[8]
T. S. Szasz: "The Untamed Tongue: A Dissenting Dictionary" Open Court Publishing Company 1990

[9] L. B. Yeager: "From gold to the Ecu: The international monetary system in retrospect" Independent Review I: 75-99

[10] J. M. Keynes: "The Economic Consequences of the Peace" London 1919 Deutsch: "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" Duncker & Humblot, München 1920

[11] Roy Sydney Porter (1946-2002): "Flesh in the Age of Reason" Penguin Books 2004
[11a] R. S. Porter: "Wahnsinn: Eine kleine Kulturgeschichte" Dörlemann Verlag Zürich 2005

Werner Robert Leibbrand (1896-1974), Annemarie Wettley (1913-96, Gattin): „Der Wahnsinn – Geschichte der abendländischen Psychopathologie“ AREA 2005 (1960)

[12] Die Jakobiner waren im formellen Sinn die Mitglieder eines politischen Klubs während der Französischen Revolution [1789 bis 1799]. In einer inhaltlichen Betrachtung wurden in Frankreich ab 1793 die Anhänger Maximilien de Robespierres [1758-1794 enthauptet] als Jakobiner bezeichnet. Sie vertraten die politische Linke und setzten sich u. a. für die Abschaffung der Monarchie ein. Die Jakobiner fanden ihre Anhänger hauptsächlich in städtischen Unterschichten. Der Name Jakobinerklub bezog sich auf den Versammlungsort, dem Jakobinerkloster Saint-Honoré in Paris. Quelle: Internet

[13] Science Week 2004: "Cognitive Science: From Brain to Mind" http://scienceweek.com/2004/sa040903-4.htm 21.11.2010

[14] D. C. Dennett: "Philosophie des menschlichen Bewusstseins" (Consciousness Explained 1991) übers. von Franz M. Wuketits. Hoffmann und Campe 1994

[15] A. J. Hobson: "The Chemistry of Conscious States: How the Brain Changes Its Mind" Little Brown & Co 1994

[16] C. de Duve: "Life Evolving: molecules, mind, and meaning" Oxford University Press 2002

[17] S. H. Barondes: "The biological approach to psychiatry: history and prospects" Journal of Neuroscience 1990 10 (107-10): 1709

[18] B. Rush: " Medical inquiries and Observations, upon the diseases of the mind" Kimber & Richardson 1812. New York: Macmillan-Hafner Press, 1962

[19] Richard von Krafft-Ebing: "Psychopathia sexualis. Mit Besonderer Berücksichtigung der Conträren Sexualempfindungen. Eine klinisch-forensische Studie" Stuttgart, F. Enke1886

[20] A. F. Poussaint: "Is extreme racism a mental illness? The New Crisis (Januar-Februar) 2000, pp. 23-25. "Is extreme racism a mental illness? Point-Counterpoint” Western Journal of Medicine 176:4 2002

[21] F. Tallis: "Love Sick: Love as a Mental Illness" Da Capo Press 2005
[21a] J. Waters: "Love and Madness" Washington Times, February 14, 2005.

[22] Roger Dobson, Sarah-Kate Templeton: "Love’s not only blind but mad, say scientists" The Sunday Times 13 February 2005

[23] Physiokratie oder Physiokratismus (gr.: "Herrschaft der Natur") ist eine von François Quesnay (1694-1774, französischer Arzt und Ökonom ) im Zeitalter der Aufklärung begründete ökonomische Schule mit der Annahme, nach welcher allein die Natur Werte hervorbrächte, der Grund und Boden der einzige Ursprung des Reichtums eines Landes sei. Somit könne nur die Landwirtschaft einen Überschuss der Produktion über die Vorleistungen erzielen, Gewerbe forme lediglich landwirtschaftliche Produkte um. Quelle: Internet

[24] G. Hesslow: "Do we need a concept of disease?" Theoretical Medicine 1993, Volume 14, Issue 1, pp 1-14
www.hesslow.com/germund/.../conce_of.pdf‎

[25] Im Volksmund wurde der Begriff des Quacksalbers ursprünglich für Personen benutzt, die unbefugt, verbotenerweise und ohne einen festen Praxisraum der Heilkunde nachgingen und dafür eine Vergütung verlangten oder erhielten. Quacksalber bezeichnet eine Person, die nur eine unzureichende medizinische Ausbildung besitzt bzw. ohne amtliche Zulassung Kranke behandelt. Ein veralteter Begriff dafür ist auch Afterarzt, von after in der Bedeutung „abseits“. Mit dem Begriff Kurpfuscherei wird häufig auch eine negative Bewertung der Qualität dieser Dienstleistung ausgedrückt, gelegentlich auch eine betrügerische Absicht, mit der – ohne grundsätzliche medizinische Bildung und Einsicht – beliebig Kranken Ratschläge erteilt bzw. Heilmittel und Scheinmedikamente verordnet werden.

Der Begriff geht möglicherweise auf die niederländischen Wörter „kwakken“ (wie eine Ente schnattern, prahlen, anpreisen) und „zalver“ (Salbenverkäufer; Ende des 16. Jahrhunderts entlehnt) zurück. Als Teil des mittelalterlichen Fahrenden Volkes priesen Quacksalber ihre Dienste in den bereisten Ortschaften an. Ebenfalls wahrscheinlich ist auch die Herkunft des Begriffes vom Quecksilber, da in der frühen Neuzeit Quecksilber-Salben und -Pflaster z. B. als Mittel gegen die Syphilis vertrieben wurden.

Oft wurden und werden Begriffe wie Pfuscher, Kurpfuscher (im selben Zusammenhang), Scharlatan, Medikaster, Urinprophet oder Barfußarzt als gleich lautend gesehen, und damit offensichtliche oder unterstellte betrügerische Absicht und Unwirksamkeit der empfohlenen Methoden teils anders gewichtet. Der Medizinhistoriker wird hier allerdings Unterschiede machen. Quelle: Internet

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Wir Kerkermeister - Traktat wider die Komplikation
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Aufklärung zur Heilung
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Vom Arzt des Inneren
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Alltag
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[Meine Ergänzungen]

Dorothea Sophie Buck Zerchin (b.1917, dtsch. Bildhauerin, Autorin): „Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung“ Herausgegeben von Hans Krieger; mit einem Anhang: „Wie es weiterging“ erzählt von D.S. Buck Zerchin PARANUS 5. Auflage 2014 (1990)
Meine "unvollständige" Literaturliste
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