"Entwurf
Deiner eigenen Landkarte"
"Die
Voraussetzung für Neues ist eine unerschütterliche Überzeugung,
dass es für dein Inneres keinen vorgeschriebenen, unveränderbaren Plan
gibt,
sondern dass alle Wege freigelegt, ausgebessert, verschönert
und gänzlich neu gebaut werden können.
Wir kommen in diese Welt bei unserer Geburt und verlassen sie mit dem
Tod.
In dieser Zeitspanne entwickeln wir unsere eigene Landkarte. Sie wird
in dem Maße detaillierter,
in dem du deine verschiedenen Teile kennen lernst und dich auf
unbekanntes Gebiet vorwagst.
Manch einer hat sich Bereits im Alter von fünf Jahren eine genaue
Karte zurechtgelegt, nach der er sich sein Leben lang richtet.
Für
andere ist zu Beginn noch nichts festgelegt. Ihre Landkarte nimmt nach
und nach Gestalt an durch die Verbindungslinien,
die sich aus den
Ereignissen und Erfahrungen ergeben,
die wir machen, wenn wir uns bewegen, schauen, hören, sprechen,
abwägen und Herausforderungen annehmen.
Auf unserer ersten Karte ist meist nur ein Weg
eingezeichnet
- der "einzig richtige"
-,
der sowohl durch all die Ansprüche unserer Umgebung an uns
vorgezeichnet ist als auch durch ein festgelegtes Ziel,
dem wir uns
mit dem Maßstab von gut und schlecht, richtig und falsch nähern.
Vielleicht ist das anfangs auch richtig so,
weil wir noch nicht genug eigene Orientierung haben.
Wenn das jedoch
unsere einzige Lebensorientierung bleibt,
können sich nur wenige Seiten in uns entwickeln, während andere
versteckt bleiben.
Und auch die Gesichter
- Ärger,
Intelligenz, Liebe, Dummheit, Macht und ihr Freund Manipulation,
Hoffnung, Eifersucht, Humor, Sex und all ihre Verwandten, so
zahlreich,
dass sie hier nicht aufgeführt werden können -,
die wir als unsere annehmen, könnten sich nicht voll entfalten,
weil auch das Nichtausleben einiger Teile viel Energie kostet.
Wir wissen inzwischen sehr viel mehr über den Menschen, als wir im
Allgemeinen annehmen.
Wusstest du zum Beispiel, dass jede deiner
Zellen eine eigene Intelligenz besitzt und dass
jede Zelle
das Programm für den Aufbau des ganzen Körpers, ja vielleicht
des Universums in sich trägt?
Wusstest du, dass auch
deine Gedanken
das Wachstum deiner Zellen
sowohl positiv als auch negativ beeinflussen?
Die Intelligenz unserer Zellen kann sich nicht
auswirken,
wenn der Verstand diese Intelligenz nicht anerkennt
oder sogar etwas ganz anderes fordert.
Unsere heutige Zeit ist ganz
schön aufregend, weil fast jeder Tag
neue Informationen über
Lebensprozesse ans Licht bringt.
Vielleicht wäre es einer der größten
Liebesdienste an uns selbst,
wenn wir uns einmal
all unsere Überzeugungen daraufhin
anschauen würden,
ob sie heute überhaupt noch zu
uns und unserem Leben passen
oder
ob sie Relikte aus der Vergangenheit sind,
die wir unüberprüft mit uns herumschleppen.
Damit sind wir jetzt am Ende des Abenteuers angekommen, das ich dir
versprochen hatte.
Vielleicht hast du neue Ideen und Informationen bekommen, mit denen
sich auch für dich
neue Möglichkeiten abzeichnen, die du jetzt auf deiner ganz
persönlichen Reise verfolgen kannst.
Dieses Leben gehört dir und du hast nur dieses
eine.
Nur du gestaltest es.
Jeder Designer verwendet bestimmte Materialien und du,
in deiner Einmaligkeit, gestaltest dich.
Mir hilft es immer, wenn ich
mir das aufschreibe, was für mich wichtig ist.
Deshalb schlage ich auch dir vor:
Notiere dir, welche neuen Einstellungen du dir
für dich wünschst,
die du ausprobieren möchtest, und welche vorhandenen
du besser kennen lernen möchtest.
Dann überlege dir jeweils drei Wege, wie du dorthin gelangen könntest,
und notiere sie ebenfalls.
Du könntest zum Beispiel ein Buch lesen, mit jemandem darüber
sprechen,
dich einer Gruppe anschließen, ein Seminar besuchen oder Vorträge
anhören.
Wenn man drei Zugänge hat, dann verfängt man
sich nicht so leicht
in einer Entweder-oder-Situation.
Wenn du deine Phantasie gerne spielen lässt oder eine lebhafte
Vorstellung hast,
dann benutze sie, vielleicht gibt dir das noch mehr Schwung.
Wenn du einmal mit einer solchen Liste anfängst, fallen dir möglicherweise immer wieder neue Ideen ein.
Sieh in ihnen weitere Möglichkeiten, die auch noch in Betracht kommen
könnten.
Entdecker
sind zwar auf der Suche nach
einem bestimmten Ziel, aber sie erlauben sich
auch,
anderen Dingen, denen sie auf ihrem Weg begegnen,
nachzugeben,
selbst wenn sie dadurch ihre Richtung ändern müssten.
Nachdem du sowohl notiert hast, was du ändern willst, als auch, wie du
es möglicherweise anfängst,
ist es jetzt noch wichtig, dir deutlich zu
sagen, welche Sache du als Nächstes
ganz konkret anpacken möchtest.
Ich führe gerne Tagebuch - je nach vorhandener Zeit mehr oder weniger
ausführlich -, um festzuhalten,
was sich bei meinen Entdeckungsreisen alles ereignet.
Zur Unterstützung schaue ich auch gerne Fotos von mir an,
die mich in den verschiedensten Stimmungen, Aktivitäten und
Lebensstufen zeigen.
Jede einzelne Situation gehört zu mir und meinem
Leben.
Ich finde es schön, sich ein eigenes Buch anzulegen - ich nenne es
"Mein Buch" -,
das sowohl diese Fotos von mir als auch Fotos von den Menschen
enthält, die mir wichtig sind.
Dazu schreibe ich Auszüge aus meinem Tagebuch, berichte von neuen
Versuchen und halte fest,
wie ich im Laufe der Zeit mit gleichen
Situationen anders umgehe,
registriere Nacht- und Tagträume und sonstige wichtige Erfahrungen.
Auf diese Weise bekomme ich
ein Gefühl für den Entwicklungsprozess in meinem
Leben.
Jeder
von uns kann - unabhängig vom Alter -
immer noch Neues in sich entdecken.
Damit wird unser Leben für uns und für andere interessant.
In dem Maße, in dem wir uns selbst mit all
unseren Teilen akzeptieren,
werden wir eine abgerundete Persönlichkeit, die zu sich selbst
liebevoll ist
und dadurch auch anderen offener und liebevoller begegnen kann.
Die Herausforderungen, denen wir uns zu stellen haben,
können wir zu schöpferischen Abenteuern werden lassen.
Das geht nicht immer schmerzlos,
aber verspricht ein zufriedenstellenderes Ergebnis.
So wünsche ich dir nun
alles Gute auf deiner
ganz persönlichen Entwicklungsreise,
dir als Wunder zu begegnen. Liebevolle Gedanken von mir
begleiten dich
und wollen dir Mut machen,
neue Erfahrungen zu riskieren.
Virginia Satir
(1916-1988)
US-Familientherapeutin
"Mutter der Familientherapie"
Aus:
„Meine vielen Gesichter. Wer bin ich wirklich?“
"Your many faces. The First Step to Being Loved" 1978
Seite 19, 110-115. 1. Auflage KÖSEL