Univ.-Prof. OMR Dr.
Robert Nikolaus Braun
(1914 Wien - 2007 ebenda)
"Pionier der wissenschaftlichen Allgemeinmedizin"
Zum 90.Geburtstag von Robert Nikolaus Braun pdf >>>
Therapeutische Regeln
für die Masse der nicht exakt diagnostizierbaren Fälle
Aus: Robert Nikolaus
Braun, Waltraud Fink, Gustav Kamenski: „Lehrbuch der Allgemeinmedizin. Theorie,
Fachsprache und Praxis“
13.Kapitel: Therapie an der ersten ärztlichen Linie. 13.1 Keine
Diagnose - Was tun? Seite 152. Berger Verlag Horn/Wien 2007
Siehe LEISTUNGEN:
Angewandte
Allgemeinmedizin & Geriatrie
>>>
Die
Allgemeinärzte
stellen heute
überall, nachdem sie den Patienten befragt und untersucht haben, eine
so
genannte DIAGNOSE.
Dabei weiß im Innersten wohl jeder Arzt, dass damit Krankheiten noch
lange nicht eindeutig
erkannt wurden [~90%]. Er glaubt sich aber dazu gezwungen, den
Namen einer (vermuteten) Krankheit zu nennen.
Wen stört es heute, wenn verschiedene
Ärzte bei derselben Gesundheitsstörung
verschiedene Krankheiten "diagnostizieren" und damit auch vielfach
verschiedene Behandlungen einleiten?
Versucht man von dieser Situation auf ein funktionsgerechtes Denken
überzugehen,
so ergeben sich daraus
für die Masse der nicht exakt diagnostizierbaren Fälle
folgende therapeutische Regeln
Regel 1
Bei diagnostisch
nicht eindeutiger Lage ist es viel wichtiger, unter Einbeziehung des
Kranken und seiner Familie
weiter abwartend offen bleibend zu beobachten und zu untersuchen,
als eine medikamentöse Behandlung
einzuleiten.
Der Arzt darf nicht so handeln, als hätte er es mit einem
abgeschlossenen Problem zu tun,
wenn es sich hauptsächlich um ein offenes handelt.
Siehe: "
Udenotherapie"
n. Prof. Dr.med. Eugen Bleuler
unter ZITATE: Werner Schneyder / Krebs - Eine Nacherzählung
>>>
Regel 2
Es ist zu
bedenken, dass eine verfrühte und falsche diagnostische Festlegung
und eine darauf basierende Therapie für den Patienten tödliche Folgen
haben kann.
Regel 3
Wenn bei
Neuen Fällen keine klare
Krankheitserkennung vorliegt, darf die Entwicklung einer zunächst
nicht vermuteten
bedrohlichen Erkrankung
nicht durch ein potentes Mittel verschleiert werden.
Der
abwartend offen gelassene Fall muss
unbeeinflusst offen
bleiben, solange noch
der
geringste Verdacht besteht, es könnte ein
atypischer Abwendbar
gefährlicher Verlauf (AGV)
dahinter stecken. Jedoch, unter Beibehaltung der
diagnostischen Aufmerksamkeit,
darf dem Patienten eine suffiziente Schmerztherapie nicht vorenthalten werden
(z.B. beim Polytrauma,
bei einer vermuteten Nierenkolik).
Regel 4
Besondere Aufmerksamkeit
soll auch bei der praxisüblichen symptomatischen Behandlung
von
Alten Fällen walten:
Wird beispielsweise bei
einem wohlbekannten Nierenstein-Patienten
ohne weiteres ein starkes Spasmolytikum
und Analgetikum
verabreicht, so kann dadurch
eine in Wirklichkeit neu beginnende
Appendizitis
zunächst verschleiert werden.
|
Die Allgemeinärzte sollten sich diese Regeln immer vor Augen halten.
So mancher Verlust an Menschen geht letztlich auch auf das
Konto des Zeitverlustes
durch Einleiten einer falschen Therapie
zurück.
Das "So-tun-als-ob" man Krankheiten richtig erkannt hätte,
obwohl es in Wirklichkeit nicht zutrifft, birgt große Gefahren in
sich.
Der dogmatische Zwang zum Diagnosestellen bildet eine schlechte
Grundlage für die Therapie
in der Allgemeinmedizin. Die Basis soll vielmehr das Abwartende
Offenlassen und eine darauf
abgestimmte Behandlung sein, die weder nennenswert schaden noch
verschleiern kann.
Aus: Robert Nikolaus
Braun, Waltraud Fink, Gustav Kamenski: „Lehrbuch der Allgemeinmedizin. Theorie,
Fachsprache und Praxis“
13.Kapitel: Therapie an der ersten ärztlichen Linie. 13.1 Keine
Diagnose - Was tun? Seite 152Berger Verlag Horn/Wien 2007
Siehe auch:
Angewandte
Allgemeinmedizin & Geriatrie
>>>
Dogmen
und Fiktionen - Wissenschaft
und Pseudo-Wissenschaft
Wahrscheinlich glauben ÄrztInnen, sie dächten ohnedies selbständig
kritisch.
Das wäre ja auch ein Ziel der Schul- und Hochschulmedizin. Die
Wirklichkeit freilich sieht anders aus.
Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass,
seitdem die Medizin im 16. Jahrhundert
[Anatom Andreas Vesal
(1514-1564)] zur Wissenschaft geworden war,
keinem der
zahllosen berufstätigen MedizinerInnen
- Abertausende WissenschaftlerInnen eingeschlossen -
das Fehlen der wissenschaftlichen Bearbeitung
der angewandten Medizin [Allgemeinmedizin]
auffiel?
Die Ergebnisse aus den traditionellen Forschungsbereichen decken
die Bedürfnisse
bei der ärztlichen Berufsausbildung ja nur zum Teil ab.
Trotzdem waren und sind ÄrztInnen überzeugt,
davon,
Heilkunde auf dem Boden der Wissenschaft auszuüben.
In Wirklichkeit jedoch gibt es zwar viel Wissen über Krankheiten,
Krankheitsursachen, Diagnostika und Therapeutika.
Wie man aber in der Praxis in den wenigen verfügbaren Minuten mit
30.000 bis 40.000 Krankheiten umgehen soll,
darüber wissen weder Lehrende noch Lernende Bescheid. Hier regiert
offensichtlich nicht aus der Realität heraus
geschaffenes Wissen, sondern die individuelle
Versuch-und-Irrtum-(trial and error)-Methode.
Dogmen und Fiktionen -
Das Dogma vom
"Diagnose-Stellen-Müssen"
Was den fehlenden wissenschaftlichen Boden für die angewandte Medizin
betrifft,
so braucht man nur an den Begriff
Diagnose zu denken.
Von alters her sollte er
das sichere Erkennen und Benennen
einer Krankheit bezeichnen.
Was aber üblicherweise zum Beispiel auf den unzähligen in der Praxis
verwendeten Formularen als "Diagnose" eingetragen wird,
hat meistens mit dem überzeugenden Zuordnen zu einer Krankheit nichts
zu tun. Vielmehr wird bei den zahllosen
nicht exakt diagnostizierbaren Fällen eine Krankheitserkennung mittels
diverser mehr oder weniger wissenschaftlicher Begriffe
sehr oft bloß vorgetäuscht. Nach außen hin wird das
Dogma vom
obligaten Diagnosestellen scheinbar erfüllt.
In Wirklichkeit betrügen sich die ÄrztInnen selbst.
Denn der Begriff Diagnose wird bis zur
Inhaltslosigkeit überdehnt.
Da das alles routinemäßig abläuft, konnte fälschlicherweise der
Eindruck entstehen, die diversen (falschen) Dogmen und Fiktionen,
welche das ärztliche Denken bestimmen, entstammten der Wissenschaft.
Trotzdem wurde vor [Nikolaus Robert] Braun von keiner Seite
her eine Erforschung der angewandten Medizin [Allgemeinmedizin] ins
Auge gefasst, obgleich sich auf andere Weise
die "Vor"-Wissenschaftlichkeit in der angewandten Medizin nicht hätte
beenden lassen.
Aber statt auf den neuen Erkenntnissen aufzubauen, wurden die neue
Fachsprache und die definierte Nomenklatur
nicht nur ignoriert, sondern sogar bekämpft. Dabei gab es weltweit
keine einzige Publikation, die brauns Forschungen widerlegt
oder einen alternativen Weg zur wissenschaftlichen Erschließung der
angewandten Medizin aufgezeigt hätte.
"Es geht auch
so" war und ist die übliche, bequeme Begründung dafür,
wenn man bei der fragwürdigen,
"selbstgestrickten" Diagnostik bleiben will.
Leere Worthülsen -
Vermutungsdiagnose
Sieht man die "Prinzipien
der Medizin" von R. Gross [1]
und M. Löffler penibel
durch, so stößt man darauf, dass dieses Werk
mindestens 64 unterschiedliche Verknüpfungen mit dem Begriff Diagnose
enthält.
Gross zieht diese Vielfalt
einem
"gehärteten" Begriff Diagnose
vor. Eine überzeugende Begründung dafür blieb er schuldig.
Greifen wir aus dieser Vielfalt das weit verbreitete Wort
"Vermutungs-Diagnose" heraus:
Wie steht es damit?
Die Ankoppelung von "Diagnose" ändert an der Bedeutung des Wortes
Vermutung nichts. Eine Vermutung bleibt eine Vermutung.
Der einzige Effekt ist die Entwertung
der Diagnose. Von der Sicherheit, welche die Diagnose
ausdrücken sollte,
geht nichts auf die Vermutung über. Diagnose
bedeutet in "Vermutungs-Diagnose" nicht mehr
als eine unverbindliche Endung wie "-ung".
Selbstverständlich wird auch das Dogma vom Erkennen der Krankheiten
nach jeder Beratung nicht weniger utopisch,
wenn man den Bezeichnungen
diagnostisch offener Fälle
das Wort "Diagnose" hinzufügt.
Durch eine "Vermutungs-Diagnose" macht man sich
"ein X für ein U" vor. Mit den übrigen 63 in den "Prinzipien
der Medizin"
stehenden Verknüpfungen ""Erstdiagnose", "vorläufige Diagnose" etc.)
sieht es nicht anders aus.
Das Problem, wie man
nicht exakt diagnostizierbare Fälle
befriedigend benennen könnte,
lässt sich keinesfalls dadurch lösen, dass die gegebene Unklarheit mit
einer nicht vorhandenen Sicherheit
in einem zusammengesetzten Hauptwort verknüpft wird.
[1]
Rudolf Gross, Markus Löffler:
„Prinzipien der Medizin – Eine Übersicht ihrer Grundlagen und Methoden“ SPRINGER
1998
Eine korrekte Terminologie -
Härtung der Diagnose und Klassifizierung
Braun [1]
hat schon 1961 beschrieben, wie sich der Begriff Diagnose "härten"
lässt. Vorbedingung
dafür war die Erkenntnis, dass man für die Erschließung neuer
Forschungsgebiete u. a. neue Begriffe
und neue Ordnungen braucht. So sind Verknüpfungen mit dem Wort
Diagnose ungeeignet,
diagnostisch
offene Beratungsergebnisse zu benennen.
Eine neue Ordnung Brauns betreffend Beratungsergebnisse umfasst nur
vier Kategorien:
1. Symptom-Klassifizierungen(~25%)
2. Klassifizierungen von
Symptomgruppen (~25%)
3. Klassifizierungen von
Krankheitsbildern (~40%)
4. "hieb- und stichfeste"
Diagnosen
(~10%)
"Die 4-Arten von Beratungsergebnissen
(BEs) nach Braun"
pdf >>>
"Die 2-dimensionale Systematik für
allgemeinärztliche Beratungsergebnisse" nach Braun
pdf >>>
"Die 12-Fenster der
2-dimensionalen Systematik für allgemeinärztliche Beratungsergebnisse"
pdf >>>
"Die Haupt-Zielrichtungen - Respektanda
der allgemeinärztlichen Programmierten Diagnostik
bei Uncharakteristischem Fieber "
pdf >>>
Nach dieser "Härtung"
bedeutet
Diagnose
ausschließlich die
"überzeugende
Zuordnung von Symptomen und anderen Krankheitszeichen
zu einem wissenschaftlichen Krankheitsbegriff".
Jede der 64 Verknüpfungen von Gross lässt sich ihrem Inhalt
entsprechend analysieren
und sodann allein aufgrund der Fakten vernünftig und zwanglos in eine
der obigen Kategorien 1 bis 3 einordnen.
Damit erübrigt sich das Wort Diagnose in der Zusammensetzung. Auf
diese Weise stellen mit Diagnose gekoppelte Wörter
gegenwärtig lediglich Relikte aus der "vor"- wissenschaftlichen Ära
der angewandten Medizin dar.
[1] R. N. Braun:
"Feinstruktur einer Allgemeinpraxis. Diagnostische und statistische
Ergebnisse" Schattauer 1961
Eine korrekte Terminologie -
Diagnose und Diagnostik
Hegglin
[1]
nannte sein Buch "Differentialdiagnose Innerer Krankheiten".
"Differentialdiagnose" war
seinerzeit und ist auch heute noch ein gängiger Ausdruck.
Gegenwärtig gibt es in vielen Lehrbüchern bei der Beschreibung von
Krankheiten so betitelte Unterabschnitte
...
"Differentialdiagnose" ist eine nicht weniger groteske
Wortschöpfung wie "Vermutungsdiagnose".
Wird doch damit unzulässigerweise ein
Handlungsbegriff (Differential) mit einem Bezeichnungsbegriff (Diagnose)
gekoppelt.
Dabei allerdings bedeutet hier "Diagnose" gar keine Bezeichnung.
Gemeint ist hier vielmehr ebenfalls eine Handlung,
nämlich die Diagnostik. Aus Nachlässigkeit hat es sich im
deutschsprachigen Gebiet aber schon lange -
wie übrigens auch im angloamerikanischen Sprachraum - eingebürgert,
"Diagnose" unnötigerweise
auch als Alternative für Diagnostik zu benützen. Dabei könnte
man sich mit beiden Begriffen,
wenn sie richtig verwendet werden, klar ausdrücken.
Wie die Dinge gegenwärtig liegen, wird "Diagnose" kaleidoskopartig u.
a. einmal im Sinne eines Benennens und
ein anderes Mal im Sinne einer Handlung verwendet. Bedauerlicherweise
sieht es mit der Nomenklatur in der
angewandten Heilkunde vielfach auch sonst verwirrend aus. Trotzdem
plädierte bisher kein Verantwortlicher dafür,
diesbezüglich durch spezielle Forschungen endlich für Ordnung zu
sorgen
...
[1] Robert Marquard Hegglin
[1907-1969]: "Differentialdiagnose innerer Krankheiten" Thieme
11.Auflage 1969 (1952)
Was ist das nun, eine
"Fehldiagnose"?
Davon wird gesprochen, wenn sich eine diagnostische Festlegung als
irrig erweist,
d.h. wenn nicht die "diagnostizierte", sondern eine andere Krankheit
vorgelegen hat. Bei unseren Ausführungen
zur "Vermutungsdiagnose" haben wir schon festgestellt:
Sämtliche Koppelungen mit dem Wort "Diagnose"
sind unzulässig
beziehungsweise sinnlos. Bei der "Fehldiagnose" handelt es sich
um die Folgen eines "vor"- wissenschaftlichen Umgehens
mit dem Problem, wie man auch in unklarer Lage dem
Dogma vom Diagnosestellen nach jeder
Beratung gerecht
werden kann. Man legt sich trotzdem auf das Vorliegen einer bestimmten
Krankheit fest. Eine überzeugende (richtige) Zuordnung
zu einem wissenschaftlichen Krankheitsbegriff - nämlich eine wirkliche
Diagnosestellung - kann nicht gleichzeitig falsch sein.
Darüber wurde und wird nicht weiter nachgedacht. Hier wird als
Lückenbüßer der Begriff der "Fehldiagnose"
verwendet.
Er verkörpert ebenso ein Geständnis wie eine Beruhigung: "So etwas
kommt eben vor" ... Mit der "Härtung" des Begriffs Diagnose
dagegen hören sich alle Verknüpfungen mit dem Wort "Diagnose" -
die "Fehldiagnose" eingeschlossen - eo ipso auf
...
Wissenschaft und Arztberuf - Eine irreführende Nomenklatur
Was herauskommt, wenn man
wissenschaftliche Probleme nicht entsprechend anpackt, zeigt
die Geschichte
der Internationalen Statistischen Klassifikation (ICD
[1]).
Die Personen, welche diese Systematik
geschaffen haben,
gingen nicht von voll vergleichbaren Statistiken der
Todes- beziehungsweise der Erkrankungsfälle aus,
wie sie das hätten tun müssen.
Denn wenn man eine Menge mittels einer Systematik aufteilen will, muss
die Menge
strenge Voraussetzungen erfüllen, und ihr darf zum Beispiel nur eine
einzige Nomenklatur zugrunde liegen.
Das taten die InitiatorInnen der ICD aber nicht. Vielmehr schlüsselten
sie die Todesursachen ("Mortalität") einfach
nach Krankheiten beziehungsweise nach medizinischen Fächern auf.
Gewiss gab es seinerzeit noch gar keine brauchbaren
Statistiken von Todes- (und Erkrankungs-) Fällen. Aber vorher
berufstheoretisch zu forschen
(womit sie weiter gekommen wären)
wäre ihnen ebenso möglich gewesen wie Braun [2],
und das noch dazu viel früher. Damit wären sie, bei richtiger Planung,
zu verwendbaren Ziffern gelangt. Nachdem die am "grünen Tisch"
geschaffene ICD allgemein eingeführt war, konnte es keinen
Neuanfang, sondern nur mehr Reformen geben. An sich hätten die mit der
Entwicklung der ICD Beschäftigten
schon vor deren "Einzementierung" u. a. dafür sorgen müssen,
dass alle an Statistiken teilnehmenden ÄrztInnen
dieselbe, definierte Nomenklatur für ihre Fälle benützen. Seit
Braun wissen wir, welch riesige Arbeit das gewesen wäre.
Dazu existiert aber keine Alternative [2.2].
Für die Allgemeinmedizin wurde das Problem der Fälle durch die
Kasugraphie und
die
zweidimensionale Systematik gelöst [3].
Dagegen war für die "unwissenden" InitiatorInnen der ICD
selbstverständlich,
dass es bei den Todesursachen - und den Fällebezeichnungen in der
Praxis - um gesicherte, einheitlich benannte und damit vergleichbare
Größen ginge. Dieser Glaube wurde freilich nie überprüft. Deshalb
besitzt die ICD auch keine wissenschaftliche Grundlage und Bedeutung.
Sie wurde ohne Berücksichtigung dessen geschaffen, was hinter den
individuell protokollierten "Diagnosen" und Todesursachen der
PraktikerInnen
und TotenbeschauerInnen tatsächlich steckt. Daher müssen die derzeit
in der Medizin Berufstätigen zusehen, wie sie für ihre
Dokumentationen,
Meldungen etc. mit der an sich untauglichen ICD zurechtkommen. Nachdem
nun in dem Ringen zwischen der Wissenschaftlichkeit und der
Unwissenschaftlichkeit noch stets die Wissenschaftlichkeit die
Oberhand behalten hat, mag man den weiteren Bemühungen um eine
optimale Systematik für die Todesfälle und für die Ergebnisse
ärztlicher Untersuchungen mit Ruhe entgegensehen."
[1] Die
Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und
verwandter Gesundheitsprobleme (ICD = International Statistical
Classification of Diseases
and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte
Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO)
herausgegeben. Die aktuelle, international gültige Ausgabe (engl.
revision) ist ICD-10, Version 2011. Die Ursprünge des ICD-Systems
gehen auf die 1850er Jahre zurück.
1893 wurde die von Jacques Bertillon [1851-1922] erarbeitete
Bertillon-Klassifikation beziehungsweise das Internationale
Todesursachenverzeichnis eingeführt.
Nach und nach entstand aus älteren internationalen Klassifikationen,
die ursprünglich ausschließlich zur Erfassung von Todesursachen
dienten, das ICD-System,
das 1938 bereits in der 5. Ausgabe vorlag. Seit seiner Einführung wird
das Klassifikationssystem von der WHO weiterentwickelt, die 1948 die
6. Ausgabe vorlegte.
Bis zur ICD-9 (1976) erfolgten etwa alle zehn Jahre weitere revidierte
Ausgaben, da aufgrund der Fortschritte in der Medizin Änderungen und
Ergänzungen erforderlich wurden.
Die Arbeit an der letzten, der zehnten Ausgabe begann 1983 und wurde
1992 abgeschlossen. Die derzeit gültige Ausgabe ist die ICD-10 in der
Version von 2011.
Im Frühjahr 2007 wurde mit den ersten Arbeiten zur ICD-11 begonnen.
[Quelle: wiki]
[2] RN Braun: 1.) "Fortbildung, Kritik, und die
Garantie einer ärztlichen Minimalversorgung" Öst.Ä.Ztg.4: 72 und 9
208. 1949
2.) "Die Gezielte Diagnostik in der Praxis" Schattauer 1957
[3] RN. Braun, A. Freitag, E. Buchmayer, I. Leitner: "Über
eine Systematik für die Fälle der Allgemeinpraxis" Münch. med. Wschr.
106/38: 1660-1662 1964
P. Landolt-Theus, H. Danninger, RN. Braun: "Kasugraphie"
Kirchheim, Mainz, Praxishilfen Heft 15, 2. Aufl. 1994 (1992)
"Die 2-dimensionale Systematik für
allgemeinärztliche Beratungsergebnisse" nach Braun
pdf >>>
Die medizinischen Fächer -
Klinik und Praxis
Die an der ersten Linie tätigen Ärzte
agierten - wissenschaftlich gesehen -, ohne ihre Tätigkeit zu
reflektieren.
Ausschließlich für die spezialistische Krankenhaustätigkeit erzogen,
waren sie nach der Aus- und Weiterbildung gezwungen,
mit ihrem Wissen und Können unter ganz anderen Umständen irgendwie
zurechtzukommen. Beim sich daraus ergebenden
"selbstgestrickten" Handeln nach ihrem berufsbedingten Bedarf taten
sie dann so, als hätten sie ausreichende Anamnesen und
auch Untersuchungen gemacht und könnten am
Beratungsende stets Krankheiten
diagnostizieren.
In Wirklichkeit freilich fragten und untersuchten sie
intuitiv-individuell nur weniges. Die gestellten "Diagnosen" hatten
mit überzeugenden
Krankheitsfeststellungen selten zu tun. Dennoch waren die
AllgemeinmedizinerInnen zufrieden. Die Forderungen der Lehrenden
glaubten sie
"erfüllt" zu haben. Böse Folgen nach ihren Beratungen gab es fast nie.
Über die Diskrepanz zwischen dem, was sie eigentlich tun sollten und
dem, was sie taten, zerbrachen sie sich nicht den Kopf. Die klinischen
LehrerInnen kümmerten sich nicht darum, was in der Praxis geschah.
Gesellschaftlich gesehen
rangierten die AllgemeinärztInnen in der angewandten Medizin an
allerletzter Stelle, d.h. in der Omega-Position. Ihrer Lage
waren sie sich kaum bewusst. Diese Stellung nahmen sie hin. Die
SpezialistInnen waren eben etwas Besseres, dachten viele von ihnen.
Es war Braun
vorbehalten festzustellen, dass die ÄrztInnen an der ersten Linie
eine den KlinikerInnen gleichwertige, unersetzliche Funktion
ausüben
(1).
Ihre eigenständige
Diagnostik ließ sich analysieren und optimieren. Aus der Praxis heraus
konnte eine fachgerechte Nomenklatur
für die Beratungsergebnisse und die sonst nötige definierte
Fachsprache gewonnen werden und vieles andere mehr (2).
Damit erwies sich die Allgemeinpraxis als ein den klinischen Fächern
ebenbürtiges Glied in der angewandten Medizin.
Berufstheoretisch gesehen hatte sie nun sogar einen
wissenschaftlichen Vorsprung.
"Beziehung zwischen
bestimmten medizinischen Fächern (Fachgebieten) und verschiedenen
Krankheiten n. Braun"
pdf>>>
[1,2]
RN
Braun: "Die Gezielte Diagnostik in der Praxis" Schattauer 1957,
2P
Landolt-Theus: "Fälleverteilung in der Allgemeinpraxis" Allgemeinarzt
14: 254-268. 1992
Die medizinischen Fächer -
Das Fach Allgemeinmedizin
Infolge der
grundlegenden berufstheoretischen Erkenntnisse
wurde die
herrschende Ansicht,
die Krankenhausmedizin sei
das Vorbild
für sämtliche ärztlichen
Berufe, widerlegt.
In der primärärztlichen Versorgung
kann nicht
so vorgegangen werden
wie an Kliniken.
AllgemeinärztInnen und SpezialistInnen arbeiten
unter verschiednen
Voraussetzungen.
Sie erfüllen unterschiedliche Funktionen
mit voneinander abweichenden
Methoden.
|
Derzeit geschieht das beiderseits fast überall auf
intuitiv-individuelle Weise. Da nun in der Heilkunde heute noch nicht
auf
Basis der neuen berufstheoretischen Erkenntnisse unterrichtet
und gearbeitet wird, können KlinikerInnen nur wieder KlinikerInnen,
und zwar im "Meister-Lehrling"-Verhältnis, heranbilden. Das bedeutet:
Die SchülerInnen kopieren bloß die LehrerInnen. Letztere
vermögen ihr Tun aber nicht theoretisch zu erklären. Dazu fehlt ihnen
der ganze wissenschaftliche Unterbau,
mitsamt einer definierten Fachsprache. Jedenfalls stehen die
AllgemeinmedizinerInnen, wo immer im fachärztlichen Bereich
sie aus- und weitergebildet wurden, an der ersten Linie primär
hilflos vor einer Unzahl unbekannter Probleme. Es fehlt ihnen
das geistige Instrumentarium für den Beruf, es fehlt das grundlegende
epidemiologische Wissen und vieles andere mehr.
Die Funktion will aber erfüllt sein. Daher beginnt für alle angehenden
AllgemeinmedizinerInnen zunächst eine Phase der "Einarbeitung".
Sie müssen, ausgestattet mit der nicht anwendbaren klinischen
Diagnostik sowie mit dem Wissen über einige Krankheiten,
zusehen,
wie sie ihre Funktion unter den unabänderlichen Handlungszwängen
ausüben können. Dabei lernen sie es zum Beispiel,
mit den Faktoren Zeit und Geld vernünftig umzugehen.
In jahrelanger unbewusster Entwicklung kommen letzten Endes alle
PraktikerInnen zu einem einigermaßen befriedigenden Beraten.
Für ihre Beratungsergebnisse, und das gilt besonders für jene
überwältigend häufigen Fälle, in denen keine überzeugenden Diagnosen
von
Krankheiten gestellt werden können, "erfinden" sie eine persönliche,
einmalige Nomenklatur. Auch die sonst nötige Fachsprache entsteht
langsam.
Dafür bleibt u. a. der klare Begriff Diagnose auf der Strecke.
Stattdessen wird überwiegend ein nichts sagender, sinnentleerter
Begriff "Diagnose"
für die meisten Beratungsergebnisse gebraucht. Eine überzeugende
Krankheitserkennung bedeutet "Diagnose" nur mehr ausnahmsweise.
Unbewusst lernen die ÄrztInnen an der ersten Linie das
Fälleverteilungsgesetz kennen: Nach einigen Praxisjahren "wissen"
sie, was in der
Allgemeinmedizin häufig und was selten vorkommt. Diagnostisch
Vorbildliches aus eigenem zu schaffen,
übersteigt ihre schöpferischen Möglichkeiten.
Der Begriff der Minimität
["Die Summe flüchtigster
Ereignisse, welche jeder Mensch laufend erlebt",
"geringfügige
Gesundheitsstörung", "Banalität", "Bagatelle"]
Bei den Wurzeln, aus denen die individuellen Nomenklaturen der
PraktikerInnen hervorgehen, haben wir bisher eine
noch nicht berücksichtigt: Die MedizinstudentInnen bekommen es während
des Studiums nur mit einer Auslese
von nennenswerten Gesundheitsstörungen zu tun.
Nun gibt es außerdem flüchtige
Erkrankungen bei Familienangehörigen, im Freundes- wie im
Bekanntenkreis,
und sie selbst sind auch nicht stets völlig gesund. Am eigenen
Leib nehmen sie beispielsweise die
Minimität wahr.
Das sind
minimale, flüchtige Abweichungen von der völligen Beschwerdefreiheit.
Jeder Mensch verspürt sie
jahraus jahrein etwa zweimal im Laufe eines Tages. Sie werden
ignoriert. Wir haben uns damit beschäftigt und dem Phänomen
den oben genannten Namen Minimität gegeben. Daher wissen wir
auch, um welche Größenordnungen es sich dabei handelt.
Für solche Vorkommnisse baut jeder Mensch nach und nach eine
persönliche Nomenklatur auf: Muskel-, Kopf-, Bauchschmerzen,
Schnupfen etc.(1) Aus diesem Wortschatz bedienen sich auch ÄrztInnen,
wenn in der Praxis Bagatellenf an sie herangebracht werden.
(1) RN Braun, Ch
Temml: "Die sogennante Morbidität" Wien.Med.Wschr.2002;152:618-623
Der Wettstreit der Fachdisziplinen
Von der Lehre der Krankheiten her und ohne genaue Kenntnis der Lage im
primärärztlichen Bereich [Allgemeinmedizin]
sind seitens der FachärztInnen
"Besitzansprüche" auf die
Krankheiten beziehungsweise auf die Fälle
der Allgemeinmedizin
entstanden. Da aber bei den zugehörigen Schätzungen jedes Fach nur
sich selbst
gesehen hat, resultieren groteske Häufigkeitsangaben.
Siehe dazu Abb.12: "Der edle Wettstreit der Fachdisziplinen"
pdf
>>>
Infolge dieser einseitigen
Sicht kommen die klinischen Fächer, wenn man die geltend gemachten
Zahlen addiert,
auf mehrere 100% von Zuständigkeiten. Das ist natürlich Unsinn. Mehr
als 100% Zuständigkeit kann es nicht geben.
Wie aber kommen die hohen
Zuständigkeitsziffern für die Einzelfächer zustande?
Hier werden bloße Schätzungen ohne epidemiologische Grundlage
zusammengezogen. Dabei hat jedes Fach
naturgemäß die Tendenz, die eigene Bedeutung möglichst hoch
anzusetzen.
Und woher kommen die
Mehrfach-Zuständigkeiten, die offensichtlich sehr häufig geschehen?
Sie dürften überwiegend aus dem Bereich jener 90%
allgemeinmedizinischer Fälle stammen,
in denen exakte
Diagnosestellungen
unmöglich sind. In Unkenntnis der Sachlage bedient sich jedes Fach
großzugig nach eigenem Dafürhalten, ohne an die anderen zu denken.
Kompetenzstreitigkeiten
Zu dieser Situation hat die
berufstheoretische Praxisforschung längst festgestellt:
Krankheiten können kein Eigentum
einzelner Fächer sein. Vielmehr sind sie gemeinsamer Besitz
aller ärztlichen Sparten (9). Siehe
9 "Kompetenzstreitigkeiten"
pdf
>>>
Es gibt viele
Gesundheitsstörungen, die in unterschiedlichen Fachbereichen gesehen
werden, etwa AllgemeinärztInnen oder von ChirurgInnen
oder von InternistInnen. Berufstheoretisch betrachtet kann das
daher keine allgemeinmedizinischen, chirurgischen oder internistischen
Krankheiten geben (10).
Siehe
10 "Kompetenzstreitigkeiten"
pdf
>>>
Hier müssen die ÄrztInnen der
Gegenwart umdenken.
Sie müssen sich von dem Glauben lösen, die
Krankheiten gehörten,
wie Besitztümer, zu diesem oder jenem Fach.
Angehende MedizinerInnen
lernen an den Hochschulen, von den Fächern her, einen empirisch
zustande gekommenen Grundstock
von Krankheiten kennen. Wir wissen
auch, dass AllgemeinärztInnen eine andere
Funktion ausüben
als Spezialisten.
Im Grunde ist aber auch
die Allgemeinmedizin eine, wenn auch andersartige
Spezialisierung.
Geht ein/e PatientIn wegen eines offenbar harmlosen subkonjunktivalen
Hämatoms zu seinem Hausarzt bzw. zu ihrer Hausärztin, dann liegt diese
Beratungsursache [BU] im Bereich deren eigener Kompetenz. OphthalmologInnen
dürfen solche Fälle nicht, weil sie sich am Auge abspielen, für ihr
Fach
mit Beschlag belegen. Ebenso liegen die Dinge bei einer
unkomplizierten Mittelohrentzündung in Bezug auf das HNO-Fach, bei
einem simplen
Kontaktekzem in Bezug auf die Dermatologie, bei einer oberflächlichen
Hautwunde in Bezug auf die Unfallchirurgie, um nur einige Beispiele zu
nennen.
Es sind Beratungsprobleme, die in der Allgemeinpraxis ebenso
befriedigend benannt und versorgt werden können,
wie SpezialistInnen
das mit dergleichen
Fällen tun. Das gehört zur normalen allgemeinärztlichen
Berufstätigkeit.
Die einzelnen medizinischen Fächer können dafür nicht
Zuständigkeiten für sich
reklamieren, auch nicht, wenn Themen betroffen sind,
über die sie die PraktikerInnen seinerzeit fächerweise unterrichtet haben. Die
Basisinformationen
über Krankheiten hätten die Studierenden
statt im fachärztlichen
Bereich ebenso gut in erweiterten Abteilungen für Allgemeinmedizin
erhalten haben können.
Jedenfalls müsste die Zusammensetzung
des Krankheitengutes, das an die erste ärztliche Linie herankommt,
anders unterteilt werden als in Hinblick auf die spezialistischen
Fächer, beziehungsweise anders
als es in der Abbildung 12 geschehen ist.
Siehe Abb.12 "Der edle Wettstreit der Fachdisziplinen"
pdf
>>>
Bei der überwältigenden Mehrheit der
Fälle müsste berücksichtigt werden,
dass sie auch
innerhalb
allgemeinmedizinischer
und nicht nur innerhalb spezialistischer Kompetenz liegen.
Zu einem chirurgischen Fall wird ein Vorkommnis in der
Allgemeinpraxis also nicht durch einen Kompetenzanspruch
seitens der
Chirurgie
oder durch die allgemeinärztliche Unklarheit über die eigene
Kompetenz, sondern ausschließlich dadurch,
dass HausärztInnen ihre
PatientInnen
in den Bereich der Chirurgie überweisen."
Aus: Robert
Nikolaus Braun, Waltraud Fink, Gustav Kamenski:
„Angewandte Medizin und wissenschaftliche Grundlagen“
S. 29, 30, 34, 37, 38, 55f, 68f, 90, 91f, 119, 121ff. FACULTAS 2004.
[Meine Ergänzungen]
Siehe dazu:
Allgemeinmedizin & Angewandte Geriatrie
>>>
Wenn heute
Kassen-VertragsärzteInnen von den Kassenvertragspartnern
"einschüchternde", "kränkende",
"sehr eigenartig anmutende", ja sogar
"bis zur Grenze der Beleidigung
und Diffamierung" gehende
Mitteilungsschreiben zugeschickt bekommen - z.B.:
"Vertragspartnerkontrolle - ... Quartal 201...
Bei
Überprüfung der Honorarabrechnung für ... Quartal ... musste
festgestellt werden, dass der Durchschnittswert
der von Ihnen abgerechneten ärztlichen Leistung pro Patient wesentlich
über dem Landesdurchschnitt
liegt.
Besonders auf dem Gebiet (z. B:) "Sonderleistungen aus dem Gebiet der
Chirurgie", z.B. Verbände ...
im Vergleich zu anderen Fachkollegen ... Leistungen in relativ großem
Umfang in Rechnung gestellt. ...
Da Sie schon seit dem ...
Quartal auffällig sind, ersuchen wir Sie
daher ... im Sinne des § 8 Abs.2
des Gesamtvertrages nach ökonomischen Gesichtspunkten durchzuführen. Wird
künftig das Ausmaß
der verrechneten
Leistungen nicht auf den üblichen Behandlungsumfang absinken,
wäre im
Wege einer Beeinspruchung Ihrer
Honorarabrechnung und einer kollegialen
[amikalen] Aussprache
die
medizinische Begründung
für den erhöhten Honoraraufwand festzustellen."
dann ist man schon sehr
"zufrieden" (glücklich), und weiterhin in seiner tiefgründigen
und
Patientenbezogenen Arbeit
bestärkt und bestätigt, - wenn mit Hilfe
der
wissenschaftlichen Arbeiten
unseres österreichischen "Pioniers
der
wissenschaftlichen
Allgemeinmedizin" Herrn Univ.-Prof. OMR Dr.
Robert Nikolaus Braun (1914-2007),
auf
die statistischen Mängel und
Tücken in der
"Alltags"Medizin,
und
dass
ich als Arzt
"Einzelindividuen" und "einzelne Patienten"
(individuelle Medizin) und nicht
"statistische Durchschnittswerte" behandle, hingewiesen wird.
Siehe dazu INFOS:
Statistik Glossar &
Allerlei
>>>
LEISTUNGEN:
Angewandte
Allgemeinmedizin & Geriatrie
>>>
Die
Finanzierungsstruktur des österreichischen Gesundheitssystems
"Bei einer so genannten
freundschaftlichen [amikalen] Aussprache, zu der Ärzte mit
Kassenvertrag
bei Aufforderung
durch die Krankenkasse verpflichtet sind, wird einem
Allgemeinmediziner die hohe
Zahl an Gelenkspunktionen, die er
in seiner Ordination selbständig
durchführt, zum Vorwurf gemacht.
Er wird der so genannten "Überarztung" beschuldigt.
Sogar die
Durchführung der Punktionen nach den
Regeln der Kunst wird angezweifelt. In einem zermürbenden, stunden-
langen Verhör muss er die Notwendigkeit
seiner Behandlung Fall für Fall begründen. Und er wird auf die dadurch
entstehenden Mehrkosten, die er im Vergleich zum Durchschnitt der
übrigen Ärzteschaft verursacht, hingewiesen.
Eine Rückforderung von bereits angewiesenem Honorar wird als Rute ins
Fenster gestellt. Der Arzt erlaubt sich,
folgende Frage an das Tribunal zu stellen: "Was soll ich denn sonst
mit den orthopädischen Patienten meiner Ordination
machen?" Die Antwort ist kurz und eindeutig: "Schicken Sie sie zum
Orthopäden oder ins Spital." Erst als der Arzt
darauf hinweist, dass er durch seine orthopädische Ausbildung zur
Gelenkspunktion befähigt sei und das Geld ja
an anderer Stelle eingespart wird, sehen die Funktionäre der Kasse
notgedrungen von einem Schiedsverfahren ab.
Regelmäßig werden
niedergelassene Ärzte aller Fachgruppen [1] derart überprüft und
zurechtgewiesen. Durchschnitts-
berechnungen, entwürdigende Patientenbefragungen und
Ökonomiekontrollen sind an der Tagesordnung. Wenn es den
betroffenen Ärzten nicht gelingt, jeden einzelnen Vorwurf im Detail zu
entkräften oder die getätigten Leistungen medizinisch
entsprechend zu begründen, werden von den Kassen bereits ausgezahlte
Honorare zurückgefordert.
Dadurch sinkt der
Durchschnitt der Kassenhonorare weiter und erneut werden dann jene
Mediziner überprüft, die
über dem neuen Durchschnitt
liegen.
Nach dem gleichen Muster werden laufend Honorare für einzelne
Leistungen
reduziert. Dabei wird von den einzelnen
Krankenkassen entweder der Bundesdurchschnitt oder das Honorarniveau
eines
anderen Bundeslandes zur Argumentation
herangezogen. Wenn zum Beispiel ein EKG in Niederösterreich besser
bezahlt wird
als in Oberösterreich, so wird den
verhandelnden Ärzten in Niederösterreich das Honorarniveau von
Oberösterreich als Ziel
vorgegeben, während im
Nachbarbundesland eine andere Leistung an das niedrigere
niederösterreichische Preisniveau
angeglichen werden soll.
Ein immer enger werdendes Korsett, das
es im Krankenhausbereich [2,2a] in dieser Form nicht gibt.
Alle Aufrufe der verantwortlichen Politiker zur Vernetzung der beiden
unterschiedlichen Gesundheitsanbieter [niedergelassene Ärzte,
öffentlichen Krankenanstalten [1,2,2a]] zu einer
sinnvollen und ökonomischen Einheit sind aufgrund der verschiednen
machtpolitischen
Interessen im Milliardenmarkt
Gesundheit von vornherein nur als Lippenbekenntnisse konzipiert. Und
auch solche geblieben.
Und unter den gegebenen
Umständen ist das auch gar nicht anders möglich.
Ein ähnliches Beispiel: Um die ausufernden Kosten im stationären
Bereich [2a] des Gesundheitssystems in den Griff zu bekommen,
werden die Krankenhäuser seit Jahren angewiesen, Laborbefunde,
Röntgenaufnahmen, EKGs und andere präoperative Befunde
im niedergelassenen Bereich [1] durchführen zu lassen, da so ein Teil der
auflaufenden Kosten gesenkt werden könnten. Diese
Vorgangsweise, die so genannte "Auslagerung von Befunderhebungen",
ist den Krankenkassen selbstverständlich ein Dorn im Auge -
denn während die Krankenkassen für die
Kosten der Spitäler nur zu einem geringen Teil aufkommen müssen [2],
haben sie
die Kosten von niedergelassenen Ärzten und Labors vollständig zu
tragen. Ein andauernder Kleinkrieg zwischen Spitalserhaltern
und Krankenkassen unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle ist die
Folge.
Seit Herbst 2009 prüft der Rechnungshof die Kosten des
Gesundheitssystems im Vergleich zwischen niedergelassenen Ärzten
und Spitalsambulanzen. Dazu haben die Prüfer 30 häufig angewendete
Leistungen ausgesucht. Ziel des Berichtes soll eine
Stellungnahme des Rechnungshofes sein, ob eine Leistung zweckmäßiger
in der Spitalsambulanz oder im niedergelassenen Bereich
durchgeführt wird. Aber bereits bei der Festlegung der in die
Kalkulation miteinzubeziehenden Kosten muss der Rechnungshof erkennen,
wie schwer ein solcher Vergleich durchzuführen ist. So ist es aus
legistischen Gründen nicht möglich, Krankengeschichten, Einkommen
der Ärzte, Qualität der Behandlung und andere Parameter in die
Untersuchung einfließen zu lassen. Auch die horrenden Summen,
die in Spitalsneu- und -umbauten fließen, werden nicht berücksichtigt.
Aber niemand, der das System kennt, wird ernsthaft glauben, dass
eine Spitalsambulanz eine Gelenkspunktion günstiger als ein
niedergelassener Facharzt oder Allgemeinmediziner anbieten kann."
Aus: Günther Loewit (b.1958, österreichischer Arzt): „Der
ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“
Kapitel: Die verwaltete Medizin. Unterkapitel: Die Macht des
Gesundheitssystems. Zum Arzt oder ins Spital. Seite 92ff.
HAYMON 2010 [Meine Ergänzungen]
Siehe LEISTUNGEN: Angewandte
Allgemeinmedizin & Geriatrie
>>>Ganz Unten: Die Finanzierungsstruktur des
österreichischen Gesundheitssystems:
[1] Lediglich 15-16% der jährlichen Beitragseinnahmen der
Sozialversicherungen für die Honorare der niedergelassenen
Vertragsärzte ausgegeben - Tendenz sinkend.
Die Ausgaben für Medikamente und Heilmittel betragen demgegenüber
27-28% des Beitragsvolumens.
[2] Ca. 26% der jährlichen Beitragseinnahmen der Sozialversicherungen
pauschal verwendet werden, um einen Teil der horrenden Spitalskosten
abzudecken.
[2a] Der Rest der Spitalsfinanzierung [~74%] stammt aus Bundes- und
Ländermitteln. Die Finanzierung der öffentlichen Krankenanstalten
[Krankenhäuser, Spitäler].
Diese so genannte "§15a-Vereinbarung" [Bund-Länder-Vereinbarungen]
wird alle 6 Jahre neu ausverhandelt. Aus dem "Leistungsorientierten
Krankenanstaltenfinanzierungs-
system" - LKF werden seit 1997 die ca. 140 Krankenanstalten
Österreichs mit öffentlichen Mitteln [für die Abrechnung der
stationären Spitalskosten] versorgt.
Das Fälleverteilungsgesetz
(nach
Univ.-Prof. OMR Dr. Robert Nikolaus Braun, 1955, 1957, 1998)
"Ein am Beginn der
Praxisforschung stehendes sehr wichtiges Thema war die
wissenschaftliche Überprüfung
der alten deprimierenden ärztlichen
Erfahrung,
dass "immer wieder dasselbe" vorkommt. Damit meinten die Praktiker
das
langweilige Heer der Bagatellen [Minimitäten] und Altersbeschwerden.
Es war nun interessant, diese Eindrücke statistisch zu überprüfen.
Dafür wiederum war eine wichtige Voraussetzung,
zusammengehörigen
Beratungsergebnissen [BE] identische Bezeichnungen zu geben,
die die wahre diagnostische Situation
nicht verschleierten. Die
Beschwerden
einer ängstlichen Patientin in der Herzgegend dürfen also nach
entsprechender Diagnostik
nicht einmal als "Panickattacke", ein
anderes Mal,
als "Stenokardien", in einem dritten Fall als "Vegetative
Dystonie", beziehungsweise
als "Funktionelles Syndrom", in
einem vierten als
"larvierte Depression" [somatisierte Depression] und in einem
fünften als
"Klimakterische Beschwerden" bezeichnet werden.
Als passend bieten sich in solchen Situationen die übergeordneten
Symptom- und Symptomgruppenklassifizierungen
zur Bezeichnung an. So wird bei dem vorgenannten Beratungsproblem
kasugrafisch "Präkordialschmerz" klassifiziert [82].
Freilich müssen dann Schmerzen in der Herzgegend die einzigen
Beschwerden sein; ansonsten darf weder an der Haut (Herpes zoster),
noch an Herz und Kreislauf, noch am Bewegungsapparat, noch psychisch
etwas Besonderes aufgedeckt worden beziehungsweise
ein Zusammenhang mit dem Klimakterium evident sein. Wird außerdem über
Herzjagen, Herzklopfen, Herzstolpern (Extrasystolie) oder
Parästhesien geklagt, so lautet die Symptomgruppenklassifizierung:
"Polymorphe Kardiopathie", natürlich gleichfalls unter der
Voraussetzung,
dass sonst organisch oder psychisch nichts Besonderes aufgefallen ist.
Wenn diese und andere Grundsätze sorgfältig eingehalten wurden,
konnten nach langjährigen fortgesetzten Vergleichen
eindruckvollste Regelmäßigkeiten der Fälleverteilung mitgeteilt
werden [11,12,13].
Das Fälleverteilungsgesetz (FVG) besagt: Größere Gruppen von Menschen,
die unter ungefähr
gleichen Umständen leben,
bringen ihre gesundheitlichen Probleme
in ähnlicher Zusammensetzung
an die Allgemeinmedizin heran. [11,12,31]
Die Beschreibung des
Fälleverteilungsgesetzes (Gesetz ist als regelmäßiges Vorkommen,
beziehungsweise Verhalten
wahrnehmbarer Dinge zu verstehen) löste manche Rätsel, die das Handeln
erfahrener Ärzte aufgegeben hatte.
Die Publikation des Fälleverteilungsgesetzes zeigte, dass
die Allgemeinärzte zwar überwiegend eine Majorität von Banalitäten
[Minimitäten] und Abnützungskrankheiten versorgen und die seltenen
Abwendbar gefährlichen Verläufe [AGV] meistens
dramatisch genug in Erscheinung treten, um nicht übersehen zu werden.
Doch gibt es eine winzige Minorität anfänglich harmlos beginnender
bedrohlicher Gesundheitsstörungen, die aus dem Auge
verloren werden kann, während man sich noch im Vertrauen auf die
Häufigkeit des Banalen und die Dramatik
des Gefährlichen
in falscher Sicherheit wiegt.
Der Allgemeinarzt darf ungeachtet der Häufigkeit
banaler Gesundheitsstörungen und Alterserscheinungen
nicht aufhören, die seltenen typischen und atypischen Abwendbar
gefährlichen Verläufe [AGV]
prinzipiell in sein Denken einzubeziehen.
Darin liegt zu einem guten Teil
die Existenzberechtigung des Arztes für Allgemeinmedizin.
3.8.1 Regelmäßigkeiten der Fälleverteilung
Wenn zwei Ärzte bei sehr
ähnlicher Diagnostik und Nomenklatur ihre Fälle (BEs)
vergleichen, so stimmen
die jährlichen Häufigkeitskurven weitgehend überein. Das
Fälleverteilungsgesetz lässt sich auch für den einzelnen
Arzt erkennen, wenn die auf persönlicher Erfahrung basierende,
Diagnostik und Nomenklatur so gut als möglich
konstant gehalten werden [38].
Ein solches Vorgehen führt zu validen Häufigkeitszahlen.
Braun
verglich sie, von 1944 beginnend, Jahr für Jahr miteinander.
In der Tab. 3a [Seite 39-48] werden die Häufigkeiten der einzelnen
Beratungsergebnisse [BEs] in vergleichbaren
Erhebungen
von Braun, Landolt, Danninger und Fink einander gegenüber gestellt.
Diese Fällestatistiken decken
eine Periode
von fast 50 Jahren ab. [21,43,81]
In Tabelle 3b [Seite 50-64] werden nur die Beratungsergebnisse
der 10-Jahres-Fällestatistik von Fink angeführt -
allerdings auch nach Altersgruppen, nach Geschlecht, sowie danach
aufgeschlüsselt, ob es sich
um einen neuen Fall (N) oder um einen Dauerbehandlungsfall (Z)
gehandelt hat.
Da die Fälleverteilung überall dort weitgehend identisch ist, wo
Menschen unter ungefähr gleichen Umständen leben,
kann jeder vor dem Praxiseintritt stehende Arzt, der sich in
klimatisch gemäßigten Zonen mit etwa gleichem Lebensniveau
niederlassen will, aus den Tabellen ziemlich genau ersehen, was ihn an
Berufsarbeit erwartet.
Der erfahrene Allgemeinarzt wiederum wird schon beim bloßen Studium
der Tabelle erkennen, dass die Häufigkeiten,
soweit sich die Begriffe vergleichen lassen, weitgehend mit seinen
unbewussten Erfahrungen übereinstimmen.
Eine von Brauns ersten Untersuchungen im Jahre 1945 ging dahin,
herauszufinden, ob letztsemestrigen Studenten der Medizin
die Häufigkeit von Gesundheitsstörungen bekannt war. Die Ergebnisse
fielen ernüchternd aus. Die Studenten glaubten alle Ernstes,
die im Unterricht betonten Raritäten kämen im zukünftigen Beruf nahezu
so häufig vor wie die alltäglichen Gesundheitsstörungen.
Dagegen hatten erfahrene Allgemeinärzte bei diesem Experiment
keinerlei Schwierigkeiten, seltene und häufige Praxisereignisse
in die richtige Häufigkeitsreihenfolge zu bringen [9].
In den neuen medizinischen Curricula verweist man bereits auf die
realen Häufigkeitszahlen
in der primärärztlichen Versorgung und versucht den Unterricht darauf
aufzubauen.
Siehe LEISTUNGEN: Angewandte
Allgemeinmedizin & Geriatrie
>>>
"Informationsfluss in der Allgemeinpraxis - in der allgemeinärztlichen
Patientenversorgung"
pdf>>>
"Direkte Diagnostik der 37 häufigsten
Beratungsergebnisse in der Allgemeinmedizin"
pdf>>>
"Diagnostik der 20
häufigsten Beratungsergebnisse in der Allgemeinmedizin durch zielende
Örtliche Routine"
pdf>>>
"Diagnostik der 18 häufigsten
Beratungsergebnisse in der Allgemeinmedizin durch Allgemeine Routine"
pdf>>>
Karl Kraus - Wie es einem Patienten wirklich geht
>>>
3.8.2 Varianten des Normalen
Das Fälleverteilungsgesetz lässt sich innerhalb einiger
Praxiswochen oder -monate nicht nachweisen.
In so kurzen Zeiträumen spielen Zufälligkeiten eine zu große Rolle.
Zunächst einmal muss man dazu
die Fälle
eines ganzen Jahres detailliert überblicken. Ist man soweit,
dann will der Statistiker wissen, wie
die Verteilung
im Vorjahr ausgesehen hatte [78]. Denn die Seele der
Statistik ist nun einmal der Vergleich.
Ist das Vorjahr bekannt, dann will man doch wissen, wie es im nächsten
Jahr weitergegangen war.
Mit anderen Worten: Fällestatistiken aus einzelnen oder aus
Gruppen von Praxen sind erst dann
genügend aussagekräftig, wenn man ein Material von mindestens drei
geschlossenen Jahren überblickt.
Außer den an den eigenen Fällen nachweisbaren Unterschieden lassen
sich bei entsprechender begrifflicher Anpassung
auch Variationen im Vergleich mit anderen Fälle-Materialien
feststellen und analysieren, z.B. die PROSENC'schen
Phänomene (Kap. 3.8.3.). Andere Variationen lassen sich durch
klimatische Unterschiede, durch verschiedene regionale,
z.B. in den Arbeitsbedingungen der PatientInnen gelegene Faktoren,
durch Massenerscheinungen
(z.B. Epidemien, Naturkatastrophen, Kriege) erklären [38].
3.8.3 PROSENCsche Phänomene
PROSENCsches Phänomen A (= Besondere
Interessen)
Das statistische Ergebnis sagt hier aus, dass bei einem Allgemeinarzt,
der in einem spezialistischen Gebiet
besonders weitergebildet ist und in seiner allgemeinärztlichen
Tätigkeit ein Schwergewicht auf diese Sparte legt,
auch diesbezüglich mehr Beratungsprobleme anfallen. Teils deckt er sie
bei seinen Patienten öfter auf, teils
sorgt sein Ruf für einen entsprechenden Zulauf. Das kommt in seiner
Fällestatistik zum Ausdruck:
Der an Augenkrankheiten besonders interessierte Arzt PROSENC konnte
also mehr Fälle von Konjunktivitis,
von Grauem Star usw. aufweisen als der Durchschnittskollege. Gegen den
Hintergrund einer Normalkurve
der Fälleverteilung ragen seine relativ und absolut vermehrten Fälle
wie "Schornsteine" heraus (Abb.9, Seite 66).
Seine anderen Beratungsergebnisse bieten die sonst beim nicht
schwerpunktmäßig arbeitenden Arzt übliche
statistische Kurve, solange der Allgemeinarzt den allgemeinen Zulauf
nicht willkürlich einschränkt.
PROSENCsches Phänomen A (= Konkurrierende
Fachgebiete)
Fachärztlicher Wettbewerb übt auf die Fälleverteilung eines solchen
teilspezialisierten Allgemeinarztes
keinen nivellierenden Einfluss auf die Zahl der Fälle aus dem
Sonderinteressensgebiet aus, wenn der
spezialistische Ruf dieses Allgemeinarztes verankert ist. Von der
Fälleverteilung her betrachtet,
wird das bevorzugte Interessensgebiet vielmehr noch betont, d.h. die
"Schornsteine" werden
in einer durch die Konkurrenz verkleinerten Praxis paradoxerweise noch
höher [94,95].
Aus: Robert Nikolaus
Braun, Waltraud Fink, Gustav Kamenski: „Lehrbuch der Allgemeinmedizin. Theorie,
Fachsprache und Praxis“
3.Kapitel: Die Fachsprache der Allgemeinmedizin. 3.8
Fälleverteilungsgesetz. Seite 36-38; 3.8.3 Prosencsche Phänomene.
Seite 65
Berger Verlag 2007
[9] RN Braun (1945): "Vergleichende Untersuchungen betreffend die
Ansichten von Studenten und Praktikern über die Fällehäufigkeit in der
Allgemeinmedizin"
Unveröffentlichte Studie, Marburg/Lahn
[11] RN Braun (1955): "Über fundamental wichtige, bisher unbekannte,
die allgemeine Morbidität betreffende Gesetzmäßigkeiten". Vortrag
Gesellschaft der Ärzte, Wien 11.3.1955
[12] RN Braun (1957): "Die gezielte Diagnostik in der Praxis"
Schattauer-Verlag, Stuttgart;
[13] RN Braun (1961): "Feinstruktur einer Allgemeinpraxis"
Schattauer-Verlag, Stuttgart
[21] RN Braun (1986): "Lehrbuch der Allgemeinmedizin - Theorie,
Fachsprache und Praxis" Kirchheim, Mainz.
[31 ] RN Braun, P Haber (1998): "Das Fälleverteilungsgesetz.
Entdeckung, Fortschreibung und
Konsequenzen - Praktisches Vorgehen bei Fällestatistiken -
Korrelationsanalytische Signifikanzberechnungen" Der Allgemeinarzt 19:
1848-1860.
[38] DL Crombie, KW Cross, DM Fleming (1992): "The problem of
diagnostic variability in general practice" J Epidemiology and
community health 46: 447-454
[43] H Danninger (1997): "Fälleverteilung in der Allgeminpraxis. 5
Einjahresstatistiken (1991-1996) einer österreichischen
Allgemeinpraxis. Teil III und Schluss"
Der Allgemeinarzt 19: 1800-1810
[78] SJ Kilpatick (1975): "The distribution of episodes of illness - a
research tool in general practice?" J R Coll Gen Pract.
sep;25(158):686-690. [PubMed]
[81] P Landolt-Theus (1992): "Fälleverteilung in der Allgemeinmedizin"
Der Allgemeinarzt 14: 254-268
[82 ]
Patrick Landolt Theus, Harro Danninger, Robert Nikolaus Braun: „Kasugraphie
– Benennung der regelmäßig häufigen Fälle in der Allgemeinpraxis“
Praxishilfen – Wissen, Tips und Service für den Arzt. Herausgeber:
Frank H. Mader. Heft 15. VERLAG KIRCHHEIM 2.Auflage 1994 (1992)
[94] F Prosenc (1966): "Die diagnostischen Ergebnisse in einer
ländlichen Allgemeinpraxis" Hippokrates 37: 429-439
[95] F Prosenc (1967): "Über bemerkenswerte Variationen bei der
Fälleverteilung in der Allgemeinpraxis" Med Welt 18:2647-2648
"Dankbar bewusst bin ich mir auch des großen Glückes, das
es mir vergönnt hatte,
mit einer nur selten möglichen
Ausschließlichkeit
25 Jahre hindurch
auf die Fertigstellung dieses Lehrbuchs
hinzuarbeiten.
Möge es den Kollegen nützlich sein
und zu einem besseren Verständnis
für die ärztliche Allgemeinpraxis
beitragen."
[S.6]
Robert
Nikolaus Braun
Thure von Uexküll
(1908-2004)
Deutscher Mediziner und Begründer der psychosomatischen Medizin
Bild aus:
www.karl-koehle.de/archiv/uexkuell/leben.html
Prof. Dr. med.
Thure von Uexküll (1908-2004) - Mediziner und Begründer der
psychosomatischen Medizin sowie Mitbegründer der Biosemiotik -
schreibt im Vorwort von
Robert Nikolaus Braun's
"Lehrbuch der ärztlichen
Allgemeinpraxis" Folgendes:
Prof. Dr. med. Karl
Köhle - ehem. Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
UNI Köln - Zum Gedenken von Thure von Uexküllpdf >>>
"Der Autor - Robert
Nikolaus Braun - legt ein Lehrbuch für
praktische Ärzte vor. Das ist ein ebenso kühnes wie notwendiges
Unternehmen:
Nicht nur, dass es auf diesem Gebiet bisher nichts Vergleichbares gibt
- der Autor kann auch nicht wie andere
Lehrbuchautoren auf Theorien und Ergebnisse
etablierter Fächer zurückgreifen. Er muss das
Fach, in dem er seine Leser unterrichten will, auf dem Fundament der
wenigen Vorarbeiten, die vorhanden sind,
erst aufbauen und seine Stellung im Bereich der Gesamtmedizin
abgrenzen. Damit hängt es zusammen, dass das Buch keine leichte
Lektüre ist.
Der Lehrbuchzweck verlangt manche Wiederholungen und eine breite
Kasuistik zur Einübung der dargebotenen Methoden. Er verlangt auch,
dass andere Stellen des Buches sich auf knappe Hinweise auf frühere
Arbeiten beschränken.
Der Autor beginnt mit einer Analyse der gegenwärtigen Situation der
Medizin des Allgemeinpraktikers, ihrer Stellung zu den Fachdisziplinen
und ihrer Funktion innerhalb des gesamten Systems der
Gesundheitsfürsorge in der Gesellschaft.
Er kommt zu den Feststellungen, die einigermaßen beunruhigend sind:
1.
Während die Spezialfächer der Medizin schon vor Jahrzehnten ihre
wissenschaftliche Methodik gefunden haben, wächst die Allgemeinpraxis,
dem Zufall überlassen,
gewissermaßen wild.
Die gewaltigen
wissenschaftlichen Anstrengungen und die riesigen Mittel, welche die
Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten in die Medizin investiert hat,
dienten fast ausschließlich den Spezialwissenschaften; der praktischen
Medizin brachten sie keine Hilfe.
2.
Die Universitätsmedizin nimmt von der Realität, mit welcher der
Praktiker konfrontiert ist, keine Kenntnis. Der Student erfährt nichts
von ihr.
So kommt der Junge
Arzt heute
unvorbereitet und mit falschen Vorstellungen in die Praxis. Er braucht
10 Jahre, um sich als Autodidakt die Methoden und die Routine
anzueignen, die notwendig sind, um sich
vor seiner Aufgabe zu behaupten. Wenn er stirbt, nimmt er seine
Erfahrungen mit ins Grab. Jeder Praktiker muss wieder ganz von vorne
beginnen.
3.
Der Allgemeinpraktiker ist überlastet und gehetzt. Er hat für den
Durchschnittsfall wenig Zeit.
Niemand lehrt
ihn, wie er diese Zeit ökonomisch
und zugleich mit einem Maximum an Verantwortung für seine Patienten
verwenden muss.
4.
Aus diesen und anderen Gründen ist der Beruf des Praktikers gegenüber
dem des Spezialisten unattraktiv geworden. Es besteht die Gefahr, dass
die Praktiker aussterben.
Das würde für die
Gesellschaft einen nicht wieder gut zu machenden Verlust bedeuten;
denn die Funktion des Allgemeinpraktikers ist nicht zu ersetzen, und
die Zeitnot,
mit der er sich heute herumschlägt, würde nur in die Klinik oder in
die Tätigkeit der Fachärzte exportiert.
Der Autor - Robert Nikolaus Braun - deutet auch den tieferen Grund an,
der zu dieser Situation geführt hat:
"Spezialisierung entsteht durch wissenschaftliche Konzentration von
breiteren auf engere Aufgaben."
Die Medizin des Allgemeinpraktikers umfasst aber das gesamte
Spektrum der Gesundheitsstörungen.
Eine Konzentration auf bestimmte Teilausschnitte, wie sie die
Spezialdisziplinen durchführen können, ist hier nicht möglich.
Daraus ergibt sich als überzeugende Konsequenz:
Nicht wissenschaftliche Konzentration auf einen Teilbereich von
Gesundheitsstörungen,
sondern auf die dem Praktiker übertragene Teilfunktion innerhalb der
Gesamtmedizin ist die Zukunftsaufgabe der Allgemeinpraxis.
Damit wird zweierlei gefordert:
1. eine medizinsoziologische Analyse des Ineinandergreifens der
verschiedenen Teilfunktionen der Fachärzte,
Kliniker und Praktiker im System der heutigen Medizin; 2. die Beantwortung der berufstheoretischen Frage nach der
Eigenart der Funktion des Praktikers.
Beide Probleme hängen zusammen. Der Autor - Robert Nikolaus
Braun - geht von dem zweiten aus. Er analysiert die Teilfunktion des
Allgemeinpraktikers und kommt
auf diesem Weg zu Resultaten, die auch für das erste Problem bedeutsam
sind. Die Teilfunktion, welche die Allgemeinpraxis im gesamten
ärztlichen Aufgabenbereich
wahrzunehmen hat, kann weder von der Klinik noch von einer
Spezialdisziplin übernommen werden.
Das ergibt sich 1. aus der Zeitnot, unter welcher der Praktiker zu arbeiten
gezwungen ist,
2. aus der Eigenart und Zusammensetzung des Patientengutes, das
der Praktiker zu versorgen hat und das sich nicht nur
von dem des Spezialisten, sondern auch von dem des Klinikers und
Poliklinikers ganz wesentlich unterscheidet.
Allein diese beiden Konstanten schreiben dem Praktiker eine besondere
Methodik für seine Arbeit und Diagnostik vor:
Er muss in kürzester Zeit zu einem Urteil
kommen, das sich weder auf eine erschöpfende Anamnese noch auf eine
Durchuntersuchung von Kopf bis Fuß, noch
auf aufwendige und zeitraubende Laboratoriumsmethoden stützen kann. Er
muss, mit anderen Worten, ohne die in der Klinik und vor allem in der
Universitätsklinik
übliche "Redundanz" zu einer diagnostischen Einordnung seiner Probleme
kommen.
Diese Zusammenhänge werden nicht gesehen: man macht sich keine
Gedanken darüber, wie die Funktion des Allgemeinpraktikers die
Aufgaben des Spezialisten und der Klinik
zu ergänzen hat und mit welchen wissenschaftlichen Methoden man sie
verbessern kann. Statt dessen wird über die Realität ein "dichter
Schleier von Fiktionen" gebreitet.
Die wichtigsten, aber auch gefährlichsten Fiktionen sind:
1. die Idealisierung der Diagnose:
"Der praktische Arzt glaubt sich heute dazu
gezwungen, nach seiner Schnelldiagnostik jedenfalls eine Diagnose zu
stellen"
2. das
Dogma
"Vor jeder Therapie muss die Diagnose stehen"
3. die Vorstellung,
der Spezialist sei die Instanz für die Diagnosen,
welche der Praktiker nur in den seltensten Fällen zu stellen in der
Lage sei.
Der Praktiker
habe daher eigentlich nur noch die Aufgabe eines Weichenstellers für
Überweisungen.
Wie sieht
demgegenüber die Realität aus?
Der Autor - Robert
Nikolaus Braun - fand, dass die Überweisung zum Facharzt
beziehungsweise in die Klinik bei kritischer Wertung in drei von vier
Fällen keinen
wesentlichen Fortschritt brachte. In 91 von 100 Fällen einer
Stichprobe war "die Masse der spezialistischen
Diagnosen und sonstigen Befunde
für den Beratungsfall
entweder bedeutungslos oder dem Hausarzt bekannt".
Hier müssen wir den praktischen Arzt in einem anderen Licht sehen. Es
zeigt ihn - aus eigenem Handeln heraus - über die diagnostischen
Situationen meistens gut orientiert.
Die Überweisungen dienen damit weniger der Beseitigung einer völligen
Unklarheit, als einer besonderen Form der Zusammenarbeit in der
Medizin.
Anders liegen die Dinge, wenn der heutige, überlastete
Allgemeinpraktiker seine Funktion vor dem Überweisen gar nicht ausübt,
sondern nur den persönlichen Zeitmangel
in die spezialistische Medizin exportiert. Damit werden dort Mittel
verbraucht, die in gar keinem Verhältnis zur durchschnittlichen
Geringfügigkeit der Erkrankung stehen.
Hierher gehören auch die Rundreisen vieler Patienten von Facharzt zu
Facharzt. Der Autor - Robert Nikolaus Braun - spricht daher vom
heutigen Chaos der Überweisungsfälle.
Für die Frage nach den Motiven, die hinter den Fiktionen stehen,
welche so beunruhigende Auswirkungen haben, ist der heutige Trend von
der kurativen zur prophylaktischen Medizin
aufschlussreich. Auch er ist - jedenfalls in der Form genereller
Forderungen, wie sie heute erhoben werden - wirklichkeitsfremd. Die
Forderung, der überlastete Praktiker solle ständig
mehr Aufgaben genereller Gesundheitsuntersuchungen übernehmen, ist
undurchführbar; sie hätte schließlich die Konsequenz, dass der
praktische Arzt nur noch für Gesunde,
aber nicht mehr für Kranke da ist.
Hier zeigt sich im Hintergrund der Fiktionen
eine allgemeine Grundhaltung unserer
heutigen Gesellschaft.
Talcott Parsons [1902-1979] hat sie in einer soziologischen Analyse
der heutigen Medizin als "optimistisch" bezeichnet.
Er versteht darunter die besonders in der amerikanischen Gesellschaft
deutlich sichtbare Tendenz, Krankheit und Tod zu bagatellisieren.
Dieser "Optimismus" findet seinen Ausdruck in dem
Glauben an die Utopie einer totalen
Gesundheitsfürsorge durch eine omnipotente Medizin,
die auf dem besten Wege ist, Krankheit, ja schließlich sogar den Tod,
zu eliminieren. Die Kehrseite ist eine gefährliche Verkennung der
Realität,
die dazu führt, dass in der Medizin nicht einmal das geschieht, was in
Hinblick auf ihre eigentliche Aufgabe, nämlich abwendbar gefährliche
Verläufe
[AGVs] von Krankheiten möglichst rechtzeitig zu erkennen und zu
verhüten, geschehen könnte.
Der Autor - Robert Nikolaus
Braun - hat den Mut, durch den Schleier der Fiktionen zur Realität
vorzustoßen.
Dabei ist er sicher manchmal einseitig, und dabei gibt es auch einige
Punkte, in denen man anderer Meinung sein kann.
Die Bedeutung seiner Analyse für die
Beurteilung der Gesamtsituation der heutigen Medizin wird
dadurch nicht geschmälert.
Aber diese Analyse ist nicht das Wichtigste in dem vorliegenden Buch.
Wichtiger ist die vom Autor - Robert Nikolaus Braun -
entwickelte Methode,
die man als eine
kritische Verhaltensanalyse des Arztes in seiner Berufssituation
bezeichnen könnte. Diese Methode ist nicht nur für
die Medizin des Allgemeinpraktikers bedeutsam; ich glaube, dass alle
Disziplinen von ihr profitieren müssten.
Damit komme ich zu dem, was mich in diesem Buch besonders beeindruckt:
Es ist die Konsequenz zur Selbstreflexion, das
heißt zur kritischen Überwachung
des eigenen Handelns und Denkens während der Berufsausübung.
Der Berufstheoretiker
Braun beobachtet und analysiert den Praktiker Braun
unentwegt im Verlauf seiner Tätigkeit in der Sprechstunde
oder bei seinen Krankenbesuchen. Er beobachtet, registriert und
kritisiert dessen Routine, die Art und Weise, wie er Probleme sieht
und löst.
Er zeichnet auf, in welcher Zeit und mit welchen Hilfsmitteln er das
bewerkstelligt. Auf diese Weise entsteht
das ungeschminkte Bild einer Realität,
das sich von den uns geläufigen Bildern erheblich unterscheidet und
mit dem der Autor nicht nur sich selbst und seinen Praktikerkollegen,
sondern der gesamten Medizin einen
Spiegel vorhält:
Die Wunschvorstellung, die Medizin könne die
Unsicherheit, mit welcher der Arzt konfrontiert ist, eliminieren,
weicht der realistischen Einsicht, dass wir Methoden finden müssen, um
mit der Unsicherheit,
die der Medizin immanent ist, optimal umzugehen.
"Wir
müssen lernen, mit unklaren Fällen zu leben."
Damit stößt die Analyse zu einem
Kernproblem der Medizin
vor, das sich im Begriff der
Diagnose versteckt.
Jeder Arzt, der über seine Tätigkeit nachgedacht hat, weiß um die
Problematik des Diagnosenbegriffs.
Er weiß, dass Diagnosen Schubladen sind, in die
wir die Probleme einordnen, welche die Patienten uns stellen.
Gelingt das, so sind wir beruhigt, laufen dafür aber Gefahr, Symptome
zu übersehen, die nicht in die Schublade unserer Diagnose passen.
Diese Gefahr wird um so größer, je weiter wir von dem Idealzustand
entfernt sind, eine eindeutige und wissenschaftlich exakte Diagnose
stellen zu können. Hier wird die Diagnose zur Potemkinschen Fassade.
Der Autor - Robert Nikolaus Braun - sagt dazu:
"In der
Regel bleibt der Fall, bei dem keine charakteristischen
Krankheitszeichen und Beschwerden angegeben werden,
auch nach der Untersuchung unklar. Man lässt ihn abwartend offen. Der
Praktiker muss sich nur davor hüten,
diese Situation durch Stellung einer Diagnose zu verschleiern."
Eben auf dieses abwartende Offenlassen
kommt es an. Es ist der Kernpunkt der Methode, die der Autor -
Robert Nikolaus Braun - auf Grund
seiner Analyse der ärztlichen Situation entwickelt. Sie soll erlauben,
die Unsicherheit der Situation unter dem kategorischen Imperativ zu
beurteilen,
"abwendbar gefährliche Verläufe" (AGV)
rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern. Zu diesem Zweck wird eine
System von "Klassifizierungen"
entwickelt.
Statt Diagnosen zu stellen, welche die Unsicherheit der Situation
verschleiern, sollen die Beratungsergebnisse realitätsgerecht benannt
werden.
Dabei ist das kritische In-Rechnung-Stellen der gesamten
diagnostischen Lage entscheidend. Die Klassifizierung soll eine
tatsachengerechte
Zusammenfassung des gesamten Ergebnisses der ärztlichen Untersuchung
unter geeigneten Begriffen geben.
Gehen wir davon aus, dass Diagnosen
Interpretationen von Phänomenen sind, welche kranke Menschen darbieten,
und fügen wir hinzu,
dass die Medizin diese Interpretationen unter
bestimmten Gesichtspunkten, vor allem prognostischer und
therapeutischer Art, vornimmt -
dann erkennen wir, dass dieses Interpretieren ein komplizierter
Prozess ist, der verschiedene Stufen durchläuft.
Die Frage, welche Stufe jeweils erreicht werden kann, hängt von
verschiedenen Faktoren ab: auf der einen Seite vom Krankheitsprozess,
von dem Stadium, das er im Augenblick der Untersuchung erreicht hat,
und den Symptomen, die sich in diesem Stadium zeigen,
zum anderen vom diagnostischen Apparat, der eingesetzt werden kann, um
nach verborgenen Hinweisen zu suchen.
Entscheidend ist aber, dass man sich darüber Rechenschaft gibt, dass
der diagnostische Prozess nicht erst in seinem Endstadium,
wenn eine Diagnose allen wissenschaftlichen Kriterien standhalten
kann, sondern auf jeder Stufe dem Arzt
vernünftige Handlungsanweisungen geben muss.
Diese Handlungsanweisungen werden vom Spektrum der prognostischen
Möglichkeiten bestimmt, die sich auf jeder Stufe des diagnostischen
Prozesses
neu abzeichnen. Daher bedeutet abwartend
Offenlassen nicht etwa Untätigkeit, sondern Einsicht in die
Notwendigkeit, dass die prognostischen
Möglichkeiten
immer wieder von neuem überprüft werden müssen. Während der
Arzt die Diagnose abwartend offen lässt, ist er ständig bereit, aktiv
einzugreifen, sobald sich
am Horizont der prognostischen Möglichkeiten abwendbar gefährliche
Verläufe abzeichnen. Sei es, dass er dann prophylaktisch Antibiotika
gibt, sei es, dass er den
Patienten in die Klinik einweist. In vielen Fällen erlaubt es sich die
Lage jedoch, die Entwicklung weiterhin abwartend offen zu lassen und
sich nur durch erneuten
Besuch oder durch genau verabredete Informationen, die der Kranke oder
dessen Angehörige dem Arzt übermitteln, über den weiteren Verlauf zu
orientieren.
Der Autor - Robert Nikolaus Braun - legt ein
System von derartigen Klassifizierungen vor, von denen einige,
wie zum Beispiel das des "Status febrilis",
bereits zu einem genauen Programm entwickelt worden sind, das dem Arzt
realitätsgerechte Handlungsanweisungen geben soll. An Hand
unausgelesener
Fälle aus der Praxis wird dem Leser die Möglichkeit geboten, das
Einteilungssystem des Autors zu üben und seine Anwendbarkeit selbst zu
erproben.
Theorie und Praxis sind immer unmittelbar aufeinander bezogen, und der
Leser hat die Möglichkeit, die Entwicklung der Gedankengänge des
Autors
in gewissem Sinne mit ihm zusammen noch einmal nachzuvollziehen.
Wichtig ist die katamnestische Nachprüfung der diagnostischen
Zuverlässigkeit der Klassifizierungen.
[Die Katamnese (gr.
katamnêsis: katá = gänzlich, mnesis) = das Erinnern) ist ein Bericht,
den ein Arzt/Therapeut nach einer Behandlung erstellt,
z. B. nach Entlassung des Patienten aus einem Krankenhaus. Sie dient
dazu, den Behandlungserfolg zu überprüfen und zu dokumentieren]
Solche
Nachuntersuchungen dürfen nicht auf den Rahmen der Praxis des Autors
beschränkt bleiben. Sie sind eine Zukunftsaufgabe
der Wissenschaft von der Medizin des
Allgemeinpraktikers, zu deren Fundierung das vorliegende Buch
Pionierarbeit leistet.
Man gewinnt den Eindruck, dass in dem Gesamtspektrum des
diagnostischen Prozesses, der von der einfachsten
Symptomklassifizierung
bis zur wissenschaftlich untermauerten Diagnose reicht, dem Praktiker,
dem Facharzt, dem Kliniker im Krankenhaus und in der Universität
verschiedene arbeitsteilige Funktionen zugewiesen sind. Diese
Arbeitsteilung kann nur funktionieren, wenn sich jedes Glied über
seine Aufgaben
im Rahmen des Ganzen und über seine Stellung zu seinen Partnern im
klaren ist. In diesem Gesamtprozess steht der Praktiker in der
vordersten Linie.
Seine Aufgabe ist es, optimale Handlungsanweisungen für diese Funktion
zu entwickeln. Dabei muss die Vorstellung
überwunden werden, dass zwischen
der Medizin des praktischen Arztes und der des Spezialisten ein
Qualitätsunterschied besteht. Es geht nicht um eine Schwelle
zwischen minderwertiger und
hochwertiger Medizin, sondern um ein
Sichergänzen verschiedenartiger, gleichwertiger Funktionen.
Aber dieses gegenseitige Ergänzen
muss dringend verbessert werden:
"Es ist manches faul an dieser Nahtstelle."
Für den Autor - Robert Nikolaus Braun - ist die Situation des
Praktikers in der Gegenwart ein Symptom für die heutige Medizin.
Hier ist dann allerdings eine möglichst exakte Diagnose die
Voraussetzung für die Therapie.
Gegenüber diesen bedeutsamen Aspekten des Buches wiegt die Möglichkeit
kritischer Einwände nicht schwer, die sich bei einzelnen Punkten regen
mag.
Noch einmal: Ungeachtet aller Einwände und möglichen Kritiken handelt
es sich um ein wichtiges und erfreulich nüchtern geschriebenes Buch,
das trotzdem spannend ist.
Diese Spannung kommt von den Tatsachen, die aufgedeckt werden, davon,
dass der Vorhang von Fiktionen beiseite geschoben wird, mit dem die
heutige Gesellschaft
und die heutige Medizin die Realität verhüllen. Der Leser wird in die
Pionierarbeit zur Begründung einer neuen Disziplin, der
Wissenschaft von der ärztlichen Allgemeinpraxis,
eingeführt, und es ist nicht nur dem Autor - Robert Nikolaus
Braun - , sondern vor allem der Medizin zu wünschen, dass er
unter den Lesern
möglichst viele Mitarbeiter für seine Pionierarbeit gewinnt.
Ulm, Januar 1970 - Thure von Uexküll
Aus: Robert
Nikolaus Braun: "Lehrbuch der ärztlichen Allgemeinpraxis"
Vorwort V-X, Einleitung Seite 6. Urban & Schwarzenberg 1970