ANGST
Günther Loewit: "Der ohnmächtige Arzt.
Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“
Kapitel: Das Leben als
Wirtschaftsgut.
Unterkapitel: Das Geschäft mit der Gesundheit.
Angst. Seite 45-49 HAYMON 2010
"Angst ist ein menschliches Grundgefühl, das sich
bei Bedrohung von außen oder innen einstellt.
Sie bewirkt eine Schärfung der Sinne, um die scheinbar bestmögliche Antwort
auf die empfundene Bedrohung einzuleiten.
Auch die moderne Gesundheitsindustrie hat das Angstmachen
als nützliches Instrument und
Geschäftsidee
entdeckt.
Einer jungen Mutter wird
bei einer Erstuntersuchung ihres Säuglings mitgeteilt, das das Mädchen motorisch
nicht entsprechend entwickelt wäre.
Auf die Frage, was denn nach einer ganz normalen Schwangerschaft die Ursache für
eine solche Störung sein könnte, erfährt die junge Frau,
dass eine Gehirnentwicklungsstörung vor oder eine mechanische Schädigung während
der Entbindung vermutet werden müsse.
Die Freude am Neugeborenen weicht sofort einer verzweifelten Angst, dem Gefühl,
versagt zu haben. Verunsichert betrachtet die Mutter ihre
nur scheinbar gesunde Tochter und fragt voller Hoffnung nach therapeutischen
Möglichkeiten. Der niedergelassene Kinderarzt bietet der Frau
die Möglichkeit des regelmäßigen Säuglingsturnens an, welches zufälligerweise in
seiner Praxis angeboten wird. Und gewissenhaft fügt der Arzt
gleich an dieser Stelle die Bemerkung hinzu, dass nur ein Teil der Kosten von
der Krankenkasse refundiert werden würde. Die Mutter greift
wie eine Ertrinkende nach diesem Strohhalm. Drei Mal pro Woche turnen Mutter und
Tochter, gewissenhaft und überglücklich, dass der Arzt
mit den erzielten Verbesserungen zufrieden ist. Und wirklich, nach einem Jahr
bestätigt der Kinderarzt der erfreuten Mutter, das das Bewegungs-
muster der Tochter jetzt dem Altersdurchschnitt entspräche und die Behandlung
derzeit pausiert werden könne. Natürlich wären
weitere Verlaufskontrollen nicht nur sinnvoll, sondern sogar dringend nötig.
In ihrem Schock hat die junge Mutter die Vorgangsweise des Arztes zu keinem
Zeitpunkt hinterfragt.
Vielleicht auch wegen der zahlreichen Diplome, welche gerahmt und hinter Glas
die Wand hinter seinem
Schreibtisch schmücken. Sie weiß, dass die ehemaligen "Götter in Weiß" einer
streng kontrollierten,
fortgebildeten, ständig evaluierten Berufsgruppe gewichen sind.
Sie fragt sich in ihrer Angst nicht:
Ob Scharlatane nicht Scharlatane bleiben, auch wenn sie Diplome aufweisen
können.
Ob ihr Baby überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt wirklich behindert war.
Ob sie einmal auf eigene Faust und Verantwortung einen Vergleich
mit einem anderen Kind desselben Alters anstellen sollte.
Ob sie eine zweite Meinung einholen sollte.
Ob ihre Angst wirklich begründet ist.
Und ob ihr nicht die normale Entwicklung des Säuglings
als Behandlungserfolg untergejubelt worden ist.
Mit der Angst werden glänzende Geschäfte gemacht.
Versicherer wissen ein Loblied über die Verunsicherung zu singen
oder Zahlen
darüber zu schreiben.
Wenn man Menschen ausreichend Angst vor einem Ereignis macht,
sind sie bereit,
die unglaublichsten Dinge zu tun.
Jahrhunderte lang hat sich schon die Kirche dieses Mechanismus bedient
und
zugleich mit Buße und Ablass
die geeigneten
Heilmittel zur Verfügung gestellt.
Man stelle nur schwer erfüllbare Forderungen
auf, deren
strikte Einhaltung alleine
zum Glück
führen würde, und warte mit Lösungsvorschlägen für all diejenigen auf,
denen die
Ziele zu hoch gesteckt sind. Es ist
ebenso schwer, die zehn Gebote
einzuhalten,
wie sich an alle Forderungen
diverser Gesundheitsapostel zu halten,
die dafür ein fast ewiges Leben versprechen.
Ein alter und bewährter Mechanismus der Machtausübung,
den sich auch das moderne
Gesundheitswesen
zunutze macht:
Angst machen in jeder Altersgruppe, in
jeder Lebenssituation.
Angst vor fettem Essen.
Angst vor zu viel Sonne.
Rauchen kann tödlich sein.
Übergewicht tötet auf Raten.
Angst vor zu wenig Bewegung.
Angst vor Stress.
Armut macht krank.
Angst vor schlechter Luft, vor Feinstaub,
Angst vor dem Klimawandel, dem Ozonloch.
Angst vor einer neuen Grippewelle.
Angst vor Krebs.
Verschieden Ängste für verschiedene Altersgruppen,
denn die Ängste eines Kindes sind andere als die eines Erwachsenen.
Also auch: Angst vor zu wenig Kalzium, Angst vor Eisenmangel, nicht
ausreichendem Impfschutz. Angst vor mangelnder Vorsorge
Statistisch gesehen sind junge Menschen, besonders Kinder, eher gesund und
schwere Krankheit
ist eher eine Erscheinung des Alterns. Um diese wirtschaftliche Ungerechtigkeit
auszugleichen,
sind zahlreiche neue Erkrankungen und auch deren Behandlung entdeckt, bösartige
Zungen behaupten sogar: erfunden worden [1]. Denn auch Kinder und Jugendliche,
die statistisch gesündeste Bevölkerungsgruppe, sollen ihren Teil zum
Milliardenmarkt
"Gesundheit" beitragen. Die Währung ist belanglos.
Die Triebfeder
mitzumachen, ist stets
die allgegenwärtige Angst.
Die harmlosesten Varianten sind noch
die unzähligen Normwerte, Wachstums- und
Gewichtskurven,
die Normierung
von Sprachentwicklung und Lernen, von Einfügen in eine immer
problematischer
werdende Gesellschaft, letztlich die Normierung der Menschwerdung und Reifung
zu
einem nie ganz
gesunden Erwachsenen.
Dabei sind die Sollwerte durch immer breiter angelegte
Studien zunehmend
knapper und enger geworden und daher für das einzelne Individuum kaum mehr
erfüllbar.
Siehe
LEISTUNGEN: Angewandte
Allgemeinmedizin & Geriatrie
>>>
Der Trick mit den Normwerten
pdf
>>>
Prof. Dr. H. Gilbert Welch, Dr. Lisa Schwartz, Dr.
Steve Woloshin: „Overdiagnosed: Making People Sick in the Pursuit of Health“
Chapter 2
"We Change the Rule - How Numbers Get Changed to Give You Diabetes,
High Cholesterol, and Osteoporosis" Table 2.1 p 23 Beacon Press 2012
Irgendein Laborwert, bevorzugt das Cholesterin, ist leicht erhöht, der
Haarausfall hat zu früh
eingesetzt - warum? Was könnte dahinter stecken?
Die Angst, nicht perfekt zu sein, nicht dazuzugehören, nicht allen Normen zu entsprechen,
ist zum ständigen Lebensbegleiter geworden.
Durch die Medien sensibilisierte Menschen beginnen, sich selbst zu untersuchen,
und "begreifen" sich selbst zum ersten Mal im Leben.
"Herr Doktor, ich habe eine
Geschwulst am Kopf, ich fürchte, dass ich Krebs habe"
Der Arzt betastet und befühlt die angegebene Stelle am Hinterhaupt und stellt
mit einem Schmunzeln fest,
dass es sich bei der gezeigten Vorwölbung des Knochens um die normale Anatomie
des Patienten handelt,
die dieser nur zum ersten Mal bewusst ertastet hat. Und dennoch gelingt es ihm
nur schwer,
den Patienten zu beruhigen und von der Idee einer Computertomographie
abzubringen.
Aber auch die Angst vor immer neuen Bedrohungen für den Körper
wird regelmäßig
geschürt,
etwa mit wiederkehrenden Pandemiewarnungen. Erinnern wir uns an die Vogelgrippe
oder
an die eben erst aktuelle Schweinegrippe - Bezeichnungen wie aus dem Gruselfilm.
"Bereits 68 Tote in Mexiko!" -, doch niemand spricht davon, dass zur gleichen
Zeit
unendlich viel mehr Mexikaner bei Autounfällen ums Leben gekommen sind.
siehe dazu ZITATE: Ferdinand Hoff
/ Fieber-
Selbstheilungskraft
>>>
Die Feinstaubbelastung dagegen hat als Feindbild einstweilen ausgedient.
Erinnern Sie sich noch an das Ozonloch? Es ist medial geschrumpft,
unsichtbar geworden.
Aber die rauchenden Schlote der Pharmaindustrie werden uns retten.
Oder vielleicht auch irgendwann einmal nicht mehr.
Doch letztlich ist oder war alles nicht so schlimm. Die Toten, von denen auf den
Titelseiten
berichtet wurde, wären sonst auch gestorben. Aber sie haben zu unserer Angst
beigetragen.
Und zum Umsatz der Zeitungen. Neue Depots von antiviralen Medikamenten sind
angelegt,
Schutzmasken eingelagert worden. Und niemand ist zu Schaden gekommen.
Das ist doch das Wichtigste. Oder?
Aber dieses System könnten nur
selbstständig denkende Menschen hinterfragen.
Aber nicht von Medien aller Art völlig verunsicherte Konsumenten, auf Wirkung
und
Nebenwirkung, Arzt oder Apotheker verwiesene Bürger, deren oberste Pflicht
im Nachleben des nur mangelhaft Vorgedachten besteht.
Günther
Loewit
(b.1958)
Österreichischer Arzt, Autor
Aus:
Günther Loewit (b.1958, österreichischer Arzt, Schriftsteller): „Der
ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“
Kapitel: Das Leben als Wirtschaftsgut. Unterkapitel: Das Geschäft mit
der Gesundheit. Angst. Seite 45-49
HAYMON 2010 [Ergänzungen]
Mark A. Reinecke: „Das kleine Anti-Angst-Buch: Die Notfallapotheke für Angstsituationen“
(„Little Ways to Keep Calm and Carry On:
Twenty Lessons for Managing Worry, Anxiety
and Fear“ New Harbinger Publications 2010) Patmos 2012
Bild oben: "Der Schrei" (1893-1910) von
Edvard Munch(1863-1944)
einem norwegischen Maler und Grafiker.
[1] Jörg Blech (b.1966, dtsch.
Wissenschaftsjournalist, Autor): „Die Krankheitserfinder – Wie wir zu Patienten
gemacht werden.“ FISCHER 2003
Medikamente als modernes Sakrament
Buch: „Der ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“
Kapitel: Das Leben als Wirtschaftsgut.
Unterkapitel: Das Geschäft mit der Krankheit. - Medikamente als modernes
Sakrament.
Seite 69-72 HAYMON 2010 [Ergänzungen]
www.vgkk.at/
"Der moderne Patient gibt sich nicht mehr
mit einer Untersuchung zufrieden.
Er vertraut nicht mehr auf die Selbstheilungskräfte des Körpers. Auf die
Fähigkeiten
des menschlichen Geistes. Auf die Begleitung durch seinen Arzt oder die Kraft
des Wortes.
Und der moderne Patient hat vor allem keine Zeit.
Er hat gelernt, in der Krankheit einen lästigen Feind
zu erkennen. Warten ist für ihn nur noch Zeitvergeudung.
Die einzig selig machende Behandlung
besteht in Tablette oder Operation. So kommt es zur dauernden,
Lebensbegleitenden Medikamenteneinnahme.
Lifestyle Drugs begleiten uns durch jede Lebensphase. Lernschwierigkeiten,
Prüfungsangst, Liebeskummer,
überzogenes Konto, Dick- oder Dünnleibigkeit, Beziehungsschwierigkeiten und
Todesfälle in der Umgebung,
es gibt immer ein geeignetes Medikament. Noch nie
wurden so viele Tabletten geschluckt und gehortet wie heute.
Denn realistische Schätzungen belegen, dass ein Viertel der verordneten
Medikamente gar nicht eingenommen
werden - so werden in Deutschland jährlich Arzneimittel im Wert von 25 Millionen
Euro weggeworfen, das entspricht
ungefähr 10% der Ausgaben im Gesundheitssystem. Standen die Menschen früher bei
der täglichen Frühmesse
vor dem Pfarrer und ließen sich die Hostie auf die Zunge legen, so macht die
Religion Medizin es heute möglich,
das Sakrament in Tablettenform selbst zu dosieren
und einzunehmen.
Medikamente können entweder über die Leber oder die Niere verarbeitet und
ausgeschieden werden.Vor allem
beim alten, kranken Patienten sind
diese Funktionen häufig eingeschränkt. Zusätzlich trinken alte Menschen
oft zu wenig, wodurch sich zahlreiche Stoffwechselfunktionen zusätzlich
verschlechtern. In der medikamentösen
Polypragmasie (Mehrfachbehandlung, [Polypharmakotherapie]),
wie sie immer intensiver angewandt wird,
werden diese Faktoren selten ausreichend berücksichtigt. Notwendige
Dosisreduktionen und Warnhinweise
auf Wechsel- und Nebenwirkungen werden nur im Kleingedruckten beschrieben.
Siehe LEISTUNGEN: 1. Angewandte
Allgemeinmedizin & Geriatrie
>>>
Polypharmakotherapie
Die Problematik der Polypharmakotherapie im Senium
2009 pdf
>>>
Die Problematik der Polypharmakotherapie im Senium
2011 pdf
>>>
Und erst langsam nimmt sich ärztliche Fortbildung des Problems an. Denn sobald
der junge Mediziner die Universität
verlässt, wird sein ärztlicher Verstand einem
Dauerbombardement der Pharmaindustrie ausgesetzt. Sein ganzes Arztsein
wird von einem einzigen Dogma bestimmt:
Für jede Krankheit, nein, für jedes Symptom
eines Patienten gibt es
eine geeignete Tablette. Eine andere Heilung ist aus Sicht der
Pharmaindustrie nicht mehr zulässig. Und nur
mühsam entwickelt sich die so genannte Komplementärmedizin
zu einer weitgehend belächelten Alternative.
Siehe LEISTUNGEN: Komplementärmedizin
>>>
Der Forschungsaufwand der Pharmakonzerne, immer auf der suche nach neuen
Bestsellern, ist enorm.
Permanent werden chemische Verbindungen getestet, verbessert, verändert
und optimiert. Oft genug kommt es
dabei zu Zufallsentdeckungen, wie etwa die Entstehungsgeschichte von Viagra [Sildenafil]
zeigt. Eigentlich
sollte ein Medikament gegen die Folgen der Verkalkung der Herzkranzgefäße
entwickelt werden. Bei ersten
klinischen Tests der neuen Substanz stellte sich aber heraus, dass eine hohe
Zahl männlicher Probanden
nach der Einnahme der Substanz über Erektionen berichteten. Ein wahrer Segen für
die Herstellerfirma,
wie sich noch herausstellen sollte. Ein zweites Beispiel: als sich in Studien
zeigte, dass ein spezielles
blutdrucksenkendes Medikament ganz nebenbei auch zu erleichtertem Harnlassen bei
Prostatavergrößerung
führte, wurde die identische Tablette auch als urologisches Heilmittel
zugelassen, versehen mit dem Hinweis,
dass als unerwünschte Nebenwirkung auch Blutdrucksenkung eintreten könne.
Und der Umsatz der Firma kletterte weiter in die Höhe.
Es wird zunehmend schwierig, neben allen anderen Verpflichtungen des Arztberufes
auf dem Laufenden zu bleiben,
welche neuen Medikamente verfügbar sind. Ärzte werden von Pharmavertretern
häufig nur auf Vorteile und fast gar
nicht auf Nachteile und Nebenwirkungen neuer Medikamente hingewiesen. Patienten
lassen ihre Ärzte außerdem weit-
gehend darüber im Dunkeln, welche rezeptfreien Medikamente
sie zusätzlich zu den ohnehin schon verordneten
Substanzen noch einnehmen. Dadurch können Wechselwirkungsprofile oft nicht mehr
festgestellt werden.
Und die Pharmaindustrie schränkt sich nur ungern selbst ein. Immerhin geht es um
einen Milliardenmarkt.
Die Wechselwirkungen von mehr als
drei bis maximal fünf pharmakologischen Substanzen
sind kaum noch
beschreib- und überprüfbar. Daher kommt es, dass eine sechste und siebente
Tablette pro Tag oft nur
notwendig ist, um die Nebenwirkungen der fünf anderen zu behandeln. Aber das
fällt nicht wirklich
unangenehm auf, spült diese Behandlungsweise doch weitere Millionen in die Töpfe
der Konzerne.
Ein häufiges Problem stellen zum Beispiel Magen- oder
Darmblutungen bei Patienten mit mehreren behandelten
Krankheiten dar. Viele Tabletten gegen Schmerzen, Gedächtnisschwäche oder
Depressionen verstärken die Blut
verdünnende Wirkung von anderen, die gegen Herz- und Gefäßerkrankungen helfen
sollen. Jahr für Jahr wird
durch so hervorgerufene Darmblutungen eine Vielzahl von Operationen notwendig,
die durch medikamentöse
Behandlungen verursacht oder beschleunigt wurden. Verordnen die Ärzte aber
ausreichend Magenschutz-
medikamente, so verhindern sie dadurch, vereinfacht beschrieben, die
ausreichende Wirkung der Blut-
verdünner. Gefäßverschlüsse und Funktionsverlust von eingesetzten Herzklappen
oder Gefäßprothesen
und neue Operationen können die mögliche Folge sein. In jedem Fall kann der Arzt
vor dem Richter landen,
denn, so befinden Gerichte häufig, er hätte den Patienten
zumindest ausreichend aufklären müssen.
Wie? Mit lateinischen oder umgangssprachlichen Begriffen? Und worüber? Über die
komplexen pathophysiologischen
Zusammenhänge der im Körper stattfindenden Vorgänge? Soll der Arzt seine
vieljährige Aus- und Fortbildung, seine
Erfahrung in einer Kurzfassung jedem Patienten weitervermitteln? Wie sollen
einfache Menschen derart komplizierte
Zusammenhänge verstehen? Welche Entscheidungen sollen sie nach einer solchen
Aufklärung treffen,
wenn sie selbst der durch Bildung und Weiterbildung verunsicherte Arzt nicht
mehr treffen kann?
Über welche Risiken sollte der Arzt seine Patienten aufklären? Zu einem
Kassentarif von wenigen Euro?
Oder im Spital in der fünfundzwanzigsten Arbeitsstunde des Tages? Über die
Gefährlichkeit des ungesunden Lebens?
Das erscheint sowohl Patienten als auch den Medikamentenherstellern lächerlich.
Über die Gefährlichkeit des Lebens an sich? Und das man mit Operationen und
Tabletten nicht alles reparieren kann?
Auch das würde niemand mehr zur Kenntnis nehmen.
Und wenn angsterfüllte, verunsicherte Patienten auf
verängstigte und eingeschüchterte Ärzte treffen,
kann das Ergebnis keine der beiden Seiten befriedigen. Auch wenn
Gesundheitsökonomen, Anwälte, Betriebswirte,
Pharma- und EDV-Firmen, Arbeitsrechtler, Betriebsräte, Arbeitsinspektoren,
Kassenkontrolleure und Kammer-
funktionäre, Telekommunikationsunternehmen, Politiker, Gesundheitsplattformen,
Qualitätssicherungsinstitute
und viele mehr ihre Existenzberechtigung aus der Begegnung von Arzt und Patient
herleiten.
Letztendlich sind sowohl Ärzte als auch
Patienten so zu Opfern
geworden.
Jeder auf seine Weise.
Günther
Loewit
(b.1958)
Österreichischer Arzt, Autor
Aus:
Günther Loewit (b.1958, österreichischer Arzt, Schriftsteller): „Der
ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“
Kapitel: Das Leben als Wirtschaftsgut. Unterkapitel: Das Geschäft mit
der Krankheit. - Medikamente als modernes Sakrament.
Seite 69-72 HAYMON 2010 [Ergänzungen]
Chirurgie als Psychotherapie
Buch: „Wie viel
Medizin überlebt der Mensch?“ Kapitel: Das Notwendige und das Mögliche -
Chirurgie als Psychotherapie. Seite 228-233. HAYMON 2.Auflkage 2013.
"Kein medizinischer Zweig boomt heute mehr als
kosmetische Eingriffe [die Ästhetische-, Plastische Chirurgie].
Im Jahr 2007 sollen alleine in Deutschland über 400.000 schönheitschirurgische
Eingriffe durchgeführt worden sein.
Operationen, die im Grunde keinen Wert für die körperliche Gesundheit haben, die
das Leben nicht verlängern,
keine Körperfunktion verbessern, keine Krankheit oder Verletzung heilen. Ihr
einziger Wert für den Patienten
ist in vielen Fällen ein scheinbarer psychischer Gewinn
und Wohlfühleffekt.
Durch die massenmediale
Verbreitung von einheitlichen Schönheitsidealen ist, zusammen mit dem
Machbarkeits-
glauben unserer Gesellschaft, der Grundstein für die Ausmaße der heutigen
Schönheitschirurgie gelegt worden.
Denn die Massenmedien - in ihrer dichten Verflechtung mit der Werbeindustrie -
wecken nicht nur materielle Bedürfnisse,
sondern auch das Verlangen, ein vollwertiger Teil dieser funkelnden, schönen
Spaß- und Wohlstandsgesellschaft zu sein.
www.medbook.es
Fettabsaugungen, Botoxinjektionen,
Hyaluronsäureunterspritzungen, Brustvergrößerungen und -verkleinerungen,
Nasen- und Geschlechtschirurgie und unzählige weitere Eingriffe sollen das Leben
in und mit dem eigenen Körper
erträglicher machen. Denn der Großteil der
Schönheitsoperationen ist nichts anderes als am
Körper voll-
zogene Therapien von psychischen Beschwerden.
Ein Ungleichgewicht von "sich selbst annehmen können" und "angenommen
werden",
die Angst, kein "idealer Mensch" zu sein, das sind die besten
Voraussetzungen,
mit sich selbst unzufrieden zu sein.
Das Gefühl, in seiner Körperlichkeit nicht liebenswert genug zu sein, ist in
vielen Fällen die Ursache für den Wunsch
nach einer kosmetischen Operation. Immer wieder berichten Patienten, die sich
für einen schönheitschirurgischen
Eingriff
interessieren, dass sie in ihrem Körper zu wenig
Selbstwertegefühl empfinden würden.
Aber festere, dünnere Beine, größere
oder kleinere Brüste, die Form der Wangen oder der Nase
haben mit dem Wert und
der Würde eines Menschen
zunächst nichts zu tun.
So steht dem Burnout der Seele ein nicht weniger
bedeutendes Burnout des Körpers gegenüber.
Angst vor Liebesentzug gepaart mit einer
Gesellschaft, die Liebe mit Sex verwechselt bzw. gleichsetzt,
führt zu dem Bedürfnis, unzweifelhaft schön und damit immer begehrenswert zu
sein.
Der Satz: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" wird in sein Gegenteil
verkehrt. Denn die
ursprüngliche und eigentliche Aussage, dass erst, wer sich selbst akzeptieren
kann, bereit sein wird,
andere zu lieben, wird offensichtlich umgedreht:
Wer erst den eigenen Körper
verändern muss,
um endlich genug Aufmerksamkeit
von der Umwelt zu bekommen, hat sich selbst noch
nie geliebt.
Und wer sich selbst nicht genug liebt, ist nicht genug geliebt worden.
www.univie.ac.at
Auch bei der Akzeptanz des Körpers kommt der
Kindheit eine enorme Bedeutung zu.
Vereinfacht ausgedrückt: Kinder, die von ihren Eltern um ihrer selbst willen
geliebt worden sind,
werden weniger Probleme damit haben, ihr Äußeres anzunehmen, als Kinder,
die stets um Anerkennung kämpfen mussten.
Das Kennenlernen von Grenzen macht auch vor der
Anerkennung der eigenen "äußerlichen Begrenzung" nicht halt.
Wer in seiner Kindheit gelernt hat, Grenzen zu akzeptieren, wird sich später
auch selbst in seiner Körperlichkeit
besser abgrenzen und einordnen können.
http://library.thinkquest.org
Auch der ständige Stress und Zeitmangel moderner
Eltern gibt Kindern das Gefühl,
nicht bedeutend genug zu sein.
Nicht den Stellenwert im Leben der Eltern zu haben,
der notwendig wäre, um sich
schön und geborgen zu fühlen.
Vielleicht könnten manche
Schönheitsoperationen durch entsprechende
psychotherapeutische Interventionen
vermieden werden - ohne die Risiken,
die eine OP nun einmal hat, denn immer
wieder versterben z.B. Patienten
bei Fettabsaugungen an Lungenembolien und anderen Komplikationen.
Vielleicht könnten auch einige Psychotherapien vermieden werden, die nach
kosmetischen Eingriffen
notwendig werden, wenn erst gar kein Silikon implantiert wird -
immer wieder
entwickeln nämlich Menschen
nach kosmetischen Eingriffen psychische Probleme.
Aber der Chirurg, so die
landläufige Meinung, kann alles.
Dort, wo die "Glückspillen" der Pharmaindustrie
versagen, schreitet er zur Tat.
Und sahnt ab, was von verblendeten Menschen
abzusahnen ist.
www.gekreuzsiegt.de
Aber wo bleibt dabei die Ethik?
Welchen Wert hat diese Ästhetik der Makellosigkeit?
Mumienhafte, oft bis zur Ausdrucksstarre kaputtoperierte Gesichter.
Keine Lachfalten für den Menschen, die das Lachen verlernt haben
(bzw. es in "Lachkursen" wieder erlernen müssen).
Die Mimik aufs Rudimentäre reduziert. Masken, hinter denen sich
verunsicherte Menschen vorübergehend verstecken können.
Eins fügt sich zum anderen.
Denn warum sollten Gesichter Geschichten erzählen,
wenn ihre Träger keine eigene Geschichte mehr haben?
Vergessen, leugnen, ungeschehen machen. Ein operatives Vorziehen
der alzheimerschen Ausdruckslosigkeit.
Aus biologischer Sicht betrachtet wäre die ewige Jugend und Schönheit, die uns
die Fernsehwerbung
als Ideal vorgaukelt, gar nicht notwendig. Evolutionstechnisch dient die
Schönheit des Körpers
vor allem der Attraktion, also der Anziehung eines fortpflanzungswilligen
Partners.
Nicht mehr
und nicht weniger. Der Lustgewinn, der mit der körperlichen Jugend
verbunden
ist,
ist aus dieser Sichtweise also primär ein Gewinn sexueller Lust.
Denkt man diesen Gedanken weiter, so heißt das:
Ewige Jugend bedeutet unter anderem die dauerhafte
Aufrechterhaltung des
Lustgewinns
aus Begehren und Begehrt-Werden zum Zecke der Fortpflanzung.
Die ist aber
aus biologischer Sicht ab einem gewissen Zeitpunkt
nicht mehr möglich.
Gisa Bührer-Lucke
(b.1953)
Deutsche Journalistin, Autorin
"Die Schönheitsfalle. Risiken und Nebenwirkungen der Schönheitschirurgie"
Orlanda Frauenverlag 1.Auflage 2006
Aber wozu erhoffen sich chirurgisch schön und jung
gehaltene Menschen
eine Verlängerung dieses Lustgefühls?
Wir pflanzen uns ja nicht ein Leben lang fort - im Grunde pflanzen wir uns fast
gar nicht mehr fort.
Mit zunehmender Körperbezogenheit und Egozentrik
verliert die Gesellschaft offensichtlich die Fähigkeit,
für ausreichenden Nachwuchs zu sorgen. Eher ist es umgekehrt: solange das Selbst
schön (und damit
vermeintlich noch fortpflanzungsfähig) ist, muss es sich noch nicht
fortpflanzen. So gesehen sind Nach-
kommen auch das Eingeständnis der eigenen Vergänglichkeit.
Und gerade diese Vergänglichkeit des Körpers ist ja
das erklärte Feindbild
der modernen Medien- und Gesundheitsindustrie.
Was tun wir der Jugend an, wenn Mütter schöner bleiben
wollen
und müssen als ihre Töchter?
Welchen Platz auf der Spielwiese des Liebens und Lebens
überlässt eine
zu ewiger Jugend verdammte Gesellschaft ihren Kindern?
Welches Selbstwertgefühl soll ein modernes Schneewittchen entwickeln,
wenn es andauernd im Schatten der Mutter stehen muss?
Oder hätte das Schneewittchen gar nicht erst vergiftet werden müssen, wenn ich
die
böse Stiefmutter bei Zeiten einer kosmetischen Operation unterziehen hätte
können?
Hätte die alte Königin ihr
Selbstwertgefühl durch eine Straffung der Gesichtshaut und ein
Silikonimplantat der Brüste erhalten können, ohne gleich die Stieftochter
beseitigen zu müssen?
Hätte man sich Zwerge, Prinz, Glassarg und die mehr oder weniger zufällige
Wiederbelebung
mitsamt ihren Kosten für das Gesundheitssystem ersparen können?
Auch hier schließt sich ein
gedanklicher Kreis.
Warum sind wir
nicht mehr imstande, den natürlichen Ablauf des Lebens
anzunehmen,
so wie wir ja auch die Jahreszeiten annehmen?
Warum wollen wir ausgerechnet den Frühling und den Sommer
zu Ungunsten von Herbst und Winter verlängern?
Wider die Natur.
Dabei könnt man das Altwerden durchaus auch versöhnlich sehen:
Weicht beim
reifen Menschen nicht die sexuelle, körperliche Attraktion
der Jugend einer freundschaftlichen, seelischen Verbundenheit?
Gewinnt der Begriff der Schönheit
nicht weitere Aspekte, die über
eine rein sexuelle Attraktion weit hinausgehen?
Ohne müde zu sein, fällt es schwer einzuschlafen. Analog könnte man überspitzt
formulieren:
Wenn wir nicht mehr vom Leben müde werden, wollen wir auch nicht mehr sterben.
Würde die
Energie, die wir ein Leben lang dazu verwenden, den Standards von Schönheit
und Erfolg gerecht zu werden, anders eingesetzt nicht befriedigendere Ergebnisse
zeitigen?
Es ist eine ärztliche
Erfahrung, dass Menschen mit intakten familiären Verhältnissen,
mit Kindern und Enkelkindern, am Ende des Lebens leichter loslassen können
als vereinsamte, abgeschobene Patienten.
Günther
Loewit
(b.1958)
Österreichischer Arzt, Autor
Aus: Günther Loewit: „Wie viel Medizin überlebt der
Mensch?“ Kapitel: Das Notwendige und das Mögliche.
Chirurgie als Psychotherapie. Seite 228-233, HAYMON 2.Auflkage 2013, www.guenther-loewit.at
[Meine Ergänzungen]
Der Siegeszug der Chirurgie
Buch: „Wie
viel Medizin überlebt der Mensch?“ Kapitel: Medizin als Spielball der
Geschichte.
Der Siegeszug der Chirurgie. Seite 244-246. HAYMON 2.Auflkage 2013.
"Wie sich die Wahrnehmung und der
Stellenwert medizinischer Versorgung permanent
verändern,
lässt sich gut am Beispiel der Chirurgie zeigen. Zweifelsohne zählen die
Chirurgen heute zu
den Stars der Medizin. Fast jedes Beschwerdebild können Chirurgen heute
"reparieren".
Als der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard [1922-2001] 1967 die
weltweit erste Herztransplantation
durchführte, folgte ein Medienrummel, wie er heute nur den Stars des Show- und
Popgewerbes zukommt.
Historisch betrachtet musste die Zunft der Chirurgen aber lange auf diese
Anerkennung warten.
Das schlechte Image, das die
Chirurgen (aus dem Griechischen wörtlich
übersetzt: Handwerker)
im Lauf der Geschichte umgeben hat, kann auf mehrere Fakten zurückgeführt
werden.
Erstens
waren chirurgische Eingriffe bis zum Aufkommen der Vollnarkose in der Mitte des
19. Jahrhunderts
stets mit unvorstellbaren Schmerzen verbunden und dementsprechend gefürchtet.
Daher mussten chirurgische
Eingriffe in möglichst kurzer Zeit durchgeführt werden, worunter naturgemäß die
Qualität der Operationen litt.
Zweitens
genossen die Angehörigen der "Schneidekunst" keine medizinische
Ausbildung wie die Ärzte,
sondern lediglich eine praktische Lehre. Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen
Ärzten waren die Chirurgen
nur Handwerker, deren Hauptgeschäft der Aderlass, das Amputieren und das Öffnen
von Abszessen
und Furunkeln war. Keine besonders ansehnlichen Eingriffe.
Und drittens
erlebte die Chirurgie ihre Blütezeiten immer im Krieg. Von Hippokrates
stammt der Satz:
"Wer Chirurg werden will, soll in den Krieg ziehen."
Dem Erfolg der Chirurgen standen zudem von
jeher Wundinfektionen und
Blutungen im Weg.
Dass Patienten größere chirurgische Eingriffe überlebten, war jahrhundertelang
eher die Ausnahme.
So soll der erste Kaiserschnitt, bei dem sowohl Kind als auch Mutter überlebten,
um 1500 vom Schweizer
Schweinekastrator Jacob Nufer an seiner eigenen Frau durchgeführt worden sein.
Im englischsprachigen Raum
datiert der erste Kaiserschnitt, bei dem auch die Mutter überlebte, überhaupt
erst aus dem Jahr 1790.
Erst mit dem Aufkommen der Anästhesie in den
1840er-Jahren setzte in der Chirurgie eine
atemberaubende Entwicklung ein, deren vorläufige Höhepunkte wir in unseren Tagen
erleben.
Wiederherstellungschirurgie, Fremd- und Eigentransplantationen,
das Einsetzen von künstlichen Körperteilen -
den Chirurgen scheinen keine Grenzen gesetzt. Die moderne Unfallchirurgie
ermöglicht Opfern ein Überleben, die
früher keine Chance gehabt hätten. Das Gleiche gilt für die Herz- und
Thoraxchirurgie und viele weitere Bereiche.
Und die Entwicklung von neuen Operationsmethoden erscheint noch lange keinen
Zenit erreicht zu haben.
Die minimal-invasive Chirurgie erlebte ihre Geburtsstunde in den
1990er-Jahren mit der
laparoskopischen Entfernung der Gallenblase. Der Vorteil, dass dank dieser
Entwicklung
mit kleinsten Hautschnitten und minimalen Weichteilverletzungen komplexe
Operationen
durchgeführt werden konnten, führte zu einem bis heute anhaltenden Siegeszug
dieser
Operationstechnik, die vor allem in der Schönheitschirurgie völlig
neuartige Methoden
ermöglicht, da sie sichtbare Narben weitestgehend vermeiden kann.
Dass es ausgerechnet die Chirurgen sind, die unsere Gesellschaft durch
Magenverkleinerungs- und
-umgehungsoperationen, Fettabsaugungen und
Fettschürzenresektionen vor der Wohlstandsverfettung
retten wollen, mag in Anbetracht der geschichtlichen Entwicklung erstaunlich
erscheinen.
Nach Jahrhunderten der Nahrungsmittelknappheit scheint der menschliche Geist
ernsthafte Umstellungsprobleme
mit dem Überfluss zu haben. Früher überlebte, wer am meisten zu essen bekam,
heute stirbt, wer am meisten
zu essen bekommt. Der Wohlstand muss heute chirurgisch behandelt werden.
Denn ein Schlagwort unserer Zeit ist "Machbarkeit".
Die Medizin ist dazu da,
Probleme zu lösen - durch Medikamente oder,
wo diese nicht helfen,
durch einen chirurgischen Eingriff."
Günther
Loewit
(b.1958)
Österreichischer Arzt, Autor
Aus: Günther Loewit:
„Wie viel Medizin überlebt der Mensch?“ Kapitel: Medizin als Spielball der
Geschichte.
Der Siegeszug der Chirurgie. Seite 244-246. HAYMON 2.Auflkage 2013.