FREIHEIT
Urgrund aller Liebe
Aus: Jakob
Bösch: „Versöhnen und Heilen: Spiritualität, Wissenschaft und Wirtschaft
im Einklang“
Kapitel: Freiheit - Urgrund aller Liebe. Seite 88 - 111. AT VERLAG 2008
ISBN: 978-3-03800-386-1
"Genau
so, wie eine Mutter ihr einziges Kind liebt
und unter Einsatz ihres Lebens schützt,
sollten auch wir grenzenlose, allumfassende Liebe
für alle Lebewesen entwickeln,
wo immer sie sich auch befinden mögen.
Unsere grenzenlose Liebe
sollte das ganze Universum durchdringen,
nach oben, nach unten und überall hin.
Unsere Liebe wird keine Hindernisse kennen,
und unsere Herzen werden vollkommen frei
von Hass und Feindschaft sein.
Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen –
solange wir wach sind,
sollen wir diese liebende Achtsamkeit
in unserem Herzen bewahren."
Buddha - Siddhartha Gautama
(563 - 483 vuZ)
Quelle:
www.buddhanetz.org/dharma/buddhismus.htm
Jakob Bösch
2013
Vor kurzem kam MIRIAM, eine
sechsunddreißigjährige, allein lebende und kinderlose Frau, in die
Beratung. Sie ist in einem medizinischen Beruf tätig und hat eine
eigene Praxis, in der sie auch komplementärmedizinische Behandlungen
anbietet. MIRIAM war früher magersüchtig. Jetzt leidet sie noch an
unregelmäßigem Überkonsum von Süßigkeiten und Alkohol. Ihr für sie beschämendes Leiden ist ihr Zwang zum Stehlen
[früher: Kleptomanie]. Sie kann öfter der
Versuchung nicht widerstehen, Süßigkeiten, ein Fläschchen Prosecco oder
Ähnliches in einem Laden mitzunehmen. Diese Symptomatik hat sich stark
ausgeprägt, seit sie von ihrem Ehemann getrennt ist. Ich frage sie, ob
sie noch sehr die Trennung vom Ehemann verarbeiten müsse oder sich
wieder frei fühle für eine neue Beziehung. Sie wolle keine Beziehung
mehr, bis sie gelernt habe, allein zu leben, war die schnelle Antwort.
Man hatte ihr inner- und außerhalb ihrer Psychotherapien gesagt, sie
müsse lernen, selbstständig zu leben. Es war
qualvoll zu hören, wie sehr sie mit ihrem Verstand gegen ihre Sehnsucht
nach Geborgenheit, Nähe und Zärtlichkeit ankämpfte.
Ein Kampf gegen sich selbst ist meist
aussichtslos, weil das Wichtigste, nämlich die Liebe fehlt. Das
gilt im Besonderen, wenn es sich um grundlegende Bedürfnisse unserer
leiblichen Existenz handelt.
So hatte sie regelmäßig ein
großes Verlangen nach einem Glas Prosecco - und nach dem ersten Glas
schmolzen die Schranken ... Sie setzte sich dann häufig ins Auto, um
irgendwo Süßigkeiten zu stehlen, oder wenn sich keine Möglichkeit dazu
ergab, sie halt zu kaufen. MIRIAM übernahm von ihrer Mutter die Idee,
dass negative Kräfte oder Wesen in ihr hausten und sie zu solch
schlechten Handlungen antrieben. Wenn MIRIAM sich isoliert fühlte,
sagte ihr die Mutter, sie sei mit der Natur, mit Gott und mit den Engeln
verbunden. MIRIAM war willens, der Mutter zu glauben und verstand nicht,
warum sie von dieser Verbundenheit so gar nichts spüren konnte. Auch
das machte sie sich zum Vorwurf. MIRIAM war
erstaunt zu hören, das Glas Prosecco sei ein erster Heilungsversuch
oder Heilungsschritt. Durch den Alkohol wurden Verstand und Wille
etwas gelähmt, und der Körper konnte ein bisschen von seinem Recht
einfordern.
Im Gespräch wurde immer
deutlicher, wie sehr MIRIAM Körper und Seele unablässig bestrafte und
unterdrückte. Ihr Mann wollte nicht mehr mit ihr
zusammen sein, weil sie nicht mehr bereit war, jedes ganze Wochenende im
Sport ans körperliche Limit zu gehen. Jahrelang hatte sie sich
untergeordnet und alles mitgemacht. Ihre liebsten Schokolade-Trüffel
verschenkte sie, in der Absicht, ihren Körper endlich von den
Süßigkeiten zu entwöhnen. Bei starkem Regen erlaubte sie sich nicht, mit
dem Auto zum mehrere Kilometer entfernten Bad zu fahren - obwohl sie
sich dann neben ihrer elegant gekleideten Kollegin wegen ihres
Fahrrad-Outfits schämte.
Die Unterdrückung ihrer Sexualität
führte sie auf Kindheitserlebnisse zurück. Ihre Erlebnisfähigkeit mit
Selbstbefriedigung oder mit Hilfe eines Vibrators zu erkunden, erlaubte
sie sich nicht, weil es sich nicht gehöre. Sie
hatte niemanden, mit dem sie intimere Gefühle und Fragen austauschen
konnte. Auch die vielen Möglichkeiten, das Internet zu nutzen,
erlaubte sie sich nicht. Für MIRIAM geht es darum
zu lernen, wie durch ihr zwanghaftes Stehlen der Körper ihr klar zu
machen versucht, wie er ständig bezüglich Erfüllung seiner Bedürfnisse
von ihr selbst bestohlen und beraubt wird. Einzig in der Not
erlaubte sie sich, Schmuck und Kleider zu kaufen. Aber offenbar trug sie
nur einen kleinen Teil davon. Wenn wir allzu
lieblos mit unserem Körper umgehen, weiß dieser sich zu wehren.
Bei MIRIAM will er zeigen, wie ungeliebt er ist,
wie betrogen er sich fühlt. Bei Fitnessfreaks und besonders bei
Extremsportlern findet man die Bestrafung des
Körpers entgegen der allgemeinen Ansicht nicht selten. Aber auch
bei allzu Gesundheitsbewussten Menschen wird der
Körper gequält, indem des Körpers eigene Stimme zugunsten von
allzu drastischen, dem Verstand entspringenden Vorschriften überhört
wird. Ein Zenmönch, der in Amerika Seminare gab, war so frei, seinen
allzu Gesundheitsbewussten Gastgebern mitzuteilen: "I don't like
mac-robiotik [Macrobiotik], I like mac-donald."
Mangelnde Selbstliebe ist
außerordentlich stark verbreitet. Viele
spirituelle Menschen sind mit sich selbst unzufrieden. Sie kommen
auf dem Weg, den sie sich ausgedacht haben, nicht schnell genug weiter.
Deshalb verurteilen sie sich wegen zu wenig
ernsthafter Meditation, wegen zu starker Ausrichtung auf das irdische
Leben, wegen Abhängigkeit, wegen mangelndem Vertrauen, wegen negativem
Denken, wegen schlechter Gefühle, wegen zu viel und zu wenig Interesse
an Sex ... Alles aufzuzählen ergäbe eine sehr lange Liste. Im
ersten Kapitel habe ich mich zu dem aus der Bergpredigt stammenden Satz,
man solle vollkommen sein, geäußert.
In dem Moment,
wo wir uns selbst ohne Bedingungen lieben
und mit uns versöhnt sind, sind wir vollkommen. Es
spielt dabei keine Rolle, wo wir auf dem von uns ausgedachten
Entwicklungsweg sind. Wir haben
immer
ich habe es schon mehrfach formuliert - die
Möglichkeit, uns zu akzeptieren und uns mit uns selbst zu versöhnen.
Schlimmstenfalls können wir uns mit unserer Unversöhnlichkeit
versöhnen. Wir können akzeptieren, dass wir uns nicht akzeptieren
können.
Der Heiler Joel
S. GOLDSMITH [1892-1964] war sehr hilfreich für mich. Wir können
irgendetwas bekämpfen bei uns oder bei anderen - und kommen dann kaum
ohne Verstrickung davon. Die körperlichen
Bedürfnisse zu bekämpfen hat in der religiösen Tradition einen hohen
Stellenwert. Die Ratschläge von Jesus, sich eher die Augen
auszureißen oder die Hände und Füße abzuhacken, wenn sie zur Sünde
verführten, sprechen eine deutliche Sprache. MIRIAM reißt sich die Augen
nicht aus und hackt sich die Hände nicht ab. Aber wie sie mit sich
selbst umgeht, kommt dem doch sehr nahe.
Entscheidend scheint mir, ob wir
wirklich die Schöpfung als Einheit sehen können, als Bewusstsein, in dem
alles mit allem verbunden ist. Dann ist die
Spaltung zwischen Materie und Geist, zwischen Körper und Seele
aufgehoben. Ich bin stets zum gleichen Schluss gekommen:
Das Göttliche lässt sich nicht begrenzen, nicht
aufteilen, nicht in gut und Böse spalten. Wir sind immer in dem Moment
vollkommen, in dem wir uns als vollkommen zu sehen vermögen. Und
da liegt das Paradox. Je
bedingungsloser wir uns lieben können, ohne dass wir Vorleistungen
erbringen müssen, desto leichter geschehen Veränderungen. Von
Petrus oder von Paulus wird im Neuen Testament, genauer in der
Apostelgeschichte berichtet, dass er einmal auf einem Dach eine Vision
hatte: Gott befahl ihm, Getier zu essen, das bei den Juden als unrein
galt. Auf seine Abwehr hin wurde ihm gesagt, was Gott für rein halte,
brauche er nicht für unrein zu halten. Er verstand das als Auftrag, auch
die Heiden als würdig für die neue Botschaft zu erachten. Man hätte
diese Vision auch als Aufforderung
verstehen können, mit sich selbst nicht so
verurteilend umzugehen. Für mich steht diese Vision für fast
alles, was wir ablehnen, für schlecht, schädlich und böse halten.
Auf die Materie im allgemeinen komme ich später zu
sprechen. Hier geht es speziell um
unseren Körper, der auch zur Materie gehört.
Wie konnte es so weit kommen, dass wir unseren
Körper nicht mehr als Manifestation dieses unbegrenzten Lichtes, der
unbegrenzten Liebe sehen können? Nicht mehr
wahrnehmen können, dass dieser Körper genauso zum Ganzen gehört wie
alles andere. Wenigstens haben uns die
Quantenphysiker aufgezeigt, dass alles,
also auch unser Körper, aus Schwingungen besteht,
nicht anders als das sichtbare Licht. Wir können viel zu unserer
Heilung und Versöhnung beitragen, wenn wir uns jeden Tag nur ein oder
zwei Minuten vorstellen, wie unser Körper letztlich aus nichts anderem
als aus Licht besteht. Für einige mag es hilfreich sein, sich zu
vergegenwärtigen, wie alle Zellen, alle Organe und
der Körper als Ganzes ständig mit Laserlicht kommunizieren, so
wie uns das die Biophotonen-Forscher aufgezeigt haben.
Siehe
ZITATE: Fritz Albert Popp:
Biophotonen informatives Laser-Licht
>>>
Die Tiere in der lichtlosen Tiefsee, die ständig
Licht durch ihren Körper fließen lassen, können uns etwas von unserer
eigenen natur aufzeigen. Welch
herrliches Geschenk haben wir uns gemacht mit der Schaffung unseres
menschlichen Körpers!
Wie konnte das Wunder unserer
leiblichen Existenz zum Sündenfall umgeschrieben werden und die
Sexualität zur Hauptsache zu einer Kraft des Teufels?
Dieses Thema beschäftigt mich nahezu mein ganzes Leben,
ohne dass ich eine klare Antwort fand: Woher
kommen diese Verurteilungen in den religiösen Traditionen? Die
ganze Erde ist zu einer Art Strafcamp, wo wir nur durch unterwürfiges
Verhalten auf Begnadigung hoffen können. Durch die
SEXUALITÄT sind wir mit einer unglaublich starken Kraft
ausgestattet. Man kann sie als
LEBENSKRAFT schlechthin sehen. Heute noch weithin gültige
Normen fordern, dass wir diese Kraft drosseln oder in allzu eng
umschriebene Kanäle leiten. Wir kennen die
religiöse Verurteilung der Homosexualität. Die
Verurteilung der Sexualität geht auch
heute noch sehr viel weiter. Von einem Chefarzt einer psychiatrischen
Klinik, der sich neben-amtlich im Internet als christlicher
Sexualberater betätigt, heißt es: "Außereheliche Sexualität
(Hurerei), die Betonung der visuellen Reize (Augenlust), das Begehren
einer anderen Frau, also all diejenigen Aktivitäten, die bei der
Internet-Sex-Sucht eine Rolle spielen, werden deutlich als "Sünde", also
als Abweichung vom guten und geraden Weg bezeichnet. Mehr noch: Sie
hemmen das geistliche Leben und die Beziehung zu Gott."
Es wird dort auch darauf hingewiesen, dies könne
zu dämonischer Besessenheit führen, die allenfalls durch geistlichen
Beistand wie Exorzismus geheilt oder gebessert werden könne. Ich führe
dieses Zitat an, um die riesigen Diskrepanzen
aufzuzeigen, zwischen denen nicht nur Erwachsene,
sondern auch Jugendliche sich zurechtfinden müssen.
Die Kraft, von der das Überleben der ganzen
Schöpfung abhängt, wird unmittelbar assoziiert mit Satan, Dämonen,
Besessenheit und Verhinderung eines spirituellen Lebens.
Überall,
wo wir Übles erwarten, wird Übles geschehen. Denn wir haben alle teil am
selben Bewusstsein. Dies können wir uns nicht genug vor Augen halten.
Was wir der Sexualität an Bosheit zuschreiben,
wird irgendwo, vornehmlich bei den Schwächsten der menschlichen
Gemeinschaft, als Bosheit in Erscheinung treten.
Viele Menschen entsetzen sich über die
Pornoszenen, die Jugendliche über das Handy austauschen.
Wie können sie sich in ihrer Unerfahrenheit
verhalten, wenn die intensive Kraft, die sie in sich spüren, so sehr mit
dem Bösen assoziiert wird? Jugendliche bringen das in extremer
Form zum Ausdruck, was von der Mehrheit zum großen Teil verdrängt wird.
Können wir uns eingestehen, wie sehr uns diese
Kraft gleichzeitig fasziniert und Angst macht? Wie von [Sigmund]
Freud [1856-1939] erkannt wurde, ist die
SEXUALITÄT eine zu starke Kraft, als dass sie sich folgenlos
unterdrücken ließe. Die SEXUALITÄT hat den Zivilisationsprozess
nicht wirklich mitgemacht. Sie lässt sich kaum einschüchtern. Auf
Unterdrückung reagiert sie mit unablässigem Gegendruck. Dies lässt sich
besonders deutlich bei der Berichterstattung über jugendlichen
Sexualmissbrauch verfolgen.
In der "Basler Zeitung" vom 18. Juli 2007 wurde
über einen Missbrauchsfall von Jugendlichen berichtet. Der Leiter der
zuständigen Jugendanwaltschaft berichtete dem Radio gegenüber, die
beiden älteren Brüder, zirca dreizehn Jahre alt, würden verdächtigt,
sich an den sexuellen Übergriffen gegenüber dem siebenjährigen Mädchen
beteiligt zu haben. Es stellt sich die schwierige
Frage, wie diese ganze Familie geschützt werden kann, damit sie beim
heute herrschenden Klima nicht der sozialen Ächtung preisgegeben wird.
Welche Hilfe erhält diese Familie, um mit der
Belastung fertig zu werden, die durch die Amtsgeheimnisverletzung des
Jugendanwalts entstanden ist? Diese Art der Berichterstattung ist
prädestiniert, neue Missbrauchsfälle zu provozieren. Viele Jugendliche
werden womöglich in ihrer Triebnot durch derartige Medienberichte eher
gereizt und angetörnt. Alles, was man in dieser
Weise bekämpft, stärkt man, weil man sich energetisch darauf fixiert.
Männliche Sexualität
ist ursprünglich auf EROBERUNG und sogar ÜBERWÄLTIGUNG angelegt, auch
wenn das nicht mehr in unsere Kultur passt und kaum ausgesprochen
werden darf. Dies ist ein wesentlicher Teil von dem, was viele männliche
(und weibliche) Jugendliche in und nach der Pubertät spüren und was
ihre Fantasie erfüllt. Der Schutz vor Übergriffen
kann nur erfolgreich sein, wenn wir uns selbst unsere Ambivalenz
eingestehen. Die öffentliche Ächtung dieser Jugendlichen hilft
nicht, diese Fantasien zu besänftigen und das Übergriffsrisiko zu
vermindern. Es entsteht eine Mischung von SENSATION und ANGST. Gerade
das treibt diese instinktive Kraft noch mehr an.
Bekanntlich machen Verbote das Verbotene noch attraktiver.
Die sexuelle Not der Jugendlichen
wird wenig thematisiert. Man erörtert zu wenig,
wie man die Aufklärung verbessern kann. Ich kann mir schlecht
vorstellen, dass man mit der Überwachung von Pornokonsum im Fernsehen,
auf Handys und im Internet, eine Verminderung dieser Risiken erreichen
kann. Das russische Fernsehen beispielsweise ist und war vor allem sehr
viel restriktiver bezüglich sexueller Freizügigkeit. Und die russischen
Jugendlichen hatten aus technischen und wirtschaftlichen Gründen weder
Handys noch Internet zur Verfügung. Trotzdem berichteten in einer
Befragung 25 % der jungen Frauen und 12 % der jugendlichen Männer Mitte
der 1990er Jahre über sexuelle Gewalt und Missbrauch (Lunin [Adolescent
sexuality in Saint Petersburg] 1995). Auch
wenn vermutlich die erwachsenen Täter weit in der Überzahl sind, zeigen
die Zahlen, wie wenig man Handys und Internet als Verursacher
beschuldigen kann. Sie sind Symptom, nicht Ursache. Eine wesentliche
Ursache ist in unserer Einstellung zu finden. Wir
sehen den Menschen und seine Körperlichkeit im Allgemeinen und die
Sexualität im Speziellen immer noch überwiegend als böse an. Bei
uns gilt das Internet in Hinblick auf die Jugendlichen als gefährlich,
in islamischen Ländern in Hinblick auf die Frauen, die Mut bekommen
könnten, ihre Befreiung zu fordern, was wiederum im Westen positiv
bewertet würde.
Eine Filmregisseurin und Kolumnistin hat unlängst
eine gänzlich oder nur teilweise fiktive Episode geschildert, in der
eine Freundin von ihr mit dem Hausmeister Streit bekam. Es wurden
Beschimpfungen und Schläge ausgetauscht. Die Kolumnistin schildert
eindrücklich, wie diese Freundin berichtete, die
Aggressivität habe den Hausmeister und auch sie selbst immer mehr
"scharf" gemacht. Schließlich seien sie im
Bett gelandet und dieser kleine Wicht habe eine prachtvolle
Überlänge von Penis manifestiert. Der Musiksender Viva hat mehr als
einmal eine Hitparade der "Bad Boys" gebracht. Oft kamen von den Frauen,
die ein Rating [Bewertung, Einschätzung] zu diesen "Bad Boys", also Film- und Musikstars, abgeben
durften, Sätze in dieser oder ähnlicher Art:
"Sein Blick sagt dir, "Ich habe dich flach gelegt und ich werde es
wieder tun", das macht ihn so sexy." "Seine Augen drücken aus, "Ich
mache, was ich will", und das macht ihn unwiderstehlich für fast jede
Frau."
Ich glaube, sowohl die Kolumnistin wie auch die
sich in Viva äußernden Frauen sagen eine Wahrheit,
die wir nicht mehr wahrhaben wollen. Man hat früher
vergewaltigte Frauen oft nicht ernst genommen und ihnen unterstellt, sie
hätten das selbst gewollt. Dadurch wagen heute Frauen höchstens noch in
Psychotherapien zu sagen, dass sie sich durch
Vergewaltigungsfantasien erregen. Ebenso wagen Männer höchstens noch in geschütztem Rahmen zu
bekennen, dass sie bei Schilderungen von Vergewaltigungen einen
sexuellen Kick spüren, den sie nicht wirklich unterdrücken können, auch
wenn sie sich deswegen beschuldigen und verachten.
Das Ernstnehmen von vergewaltigten Frauen geschieht aber nicht, indem
man die andere Seite der instinktiven Kraft einfach verleugnet und Krieg
mit ihr führt. Dieser Krieg wird sich nach außen, in die
zwischenmenschlichen Beziehungen verlagern. Jugendliche bringen das
Verdrängte auf ihre Weise zum Ausdruck und setzen es in ihrer Verwirrung
auf eigene Art um. Es macht den Anschein, dass gerade Jugendliche, die
in einem Milieu aufwachsen, das traditionell restriktiv ist, bezüglich
Übergriffen stärker gefährdet sind.
Viel offenes Gespräch und viel Aufklärung ist
notwendig, damit die Jugendlichen lernen, was bei der "EROBERUNG"
zulässig ist und wo die Verletzung der
Würde und der sexuellen Autonomie
der Frau beginnt. In einer Lebensphase, in der sie neben der
TRIEBNOT an sich in ihrem Umfeld und vor sich selbst bezüglich
sexueller Erfahrung unglaublich
unter BEWEIS-DRUCK stehen, können junge Menschen diese teilweise sehr
widersprüchlichen Botschaften nicht ohne weiteres in eine Ordnung
bringen. Die dazu angebotenen Bilder sind nur Kanal, Symptom und
Heilungsversuch. Halten wir im Bewusstsein, wie
sehr wir uns im Bund mit dieser Kraft selbst im Zentrum des
unglaublichen schöpferischen Prozesses befinden. Wenn wir ihr mit
Ablehnung und aggressiver Unterdrückung begegnen, wird sie aggressiv zum
Ausdruck kommen.
Von religiöse Seite
hört man oft, nur in einer echten Liebesbeziehung sei Sex gut und
erlaubt. Sexuelles Erleben ist aber für den Körper
an sich schon eine Erfahrung von Liebe. Wir wissen aus der
Forschung, wie nicht nur die berühmten Endorphine, also das körpereigene
Morphin, sondern ein ganzer Cocktail von so genannten Glückshormonen
beim Sex unseren Körper durchflutet. Kann jemand
ernsthaft glauben, es sei besonders göttlich, gegen dieses körperliche
Glücksgefühl, gegen den Körper zu kämpfen? Wie wir wissen,
stärken diese beim Sex ausgeschütteten Hormone nicht nur das
Immunsystem, sondern entfalten zahlreiche weitere wohltätige Wirkungen
im Körper. Durch Sex werden Blutzirkulation, Lungenfunktion und die
Muskeln angeregt. Stress, Erschöpfung und Schlaflosigkeit nehmen ab,
unabhängig davon, ob wir mit unserem Partner fest liiert, gar
verheiratet oder nur zu-fällig zusammengetroffen sind.
Die Sexualität ist die im Körper manifestierte
Gottesliebe. Hätte der liebe Gott, so er
als Person existierte, das wirklich derart eingerichtet, damit wir all
diese positiven Wirkungen unterdrücken und unseren Körper der Krankheit
entgegenführen? Ist das nicht eher Krieg gegen sich anstatt Versöhnung
mit sich? Kann das jemand als Ausdruck besonderer Spiritualität
erkennen? Das sind keine rhetorischen Fragen. Beratungsfälle, in
denen schwere, körperliche Erkrankungen mit
unterdrückter Sexualität zusammenhängen, sind nicht selten. Wenn
es einen Personenhaften allmächtigen Gott geben sollte, würde er wohl am
ehesten diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die immer noch einen
feindseligen Feldzug gegen seine liebevolle Schöpfung führen
ALBERT war sechzig, als er zusammen mit seiner Frau zur Beratung kam.
Seit Jahren litt er an medikamentös kaum einstellbarem Bluthochdruck.
Durch die vielen Medikamente war er müde und orientierungslos geworden.
Er hatte bereits drei so genannte Streifungen [TIA - Transiente
Ischämische Attacke - vorübergehende Durchblutungsstörung eines
Hirnareals] hinter sich mit bis zu
halbstündigen Lähmungen auf der einen Körperseite. Zusätzlich
entwickelte sich eine Hodenentzündung und schließlich ein derart
starker Juckreiz in der Genitalgegend, dass er sich wund kratzte. Das
Ehepaar hatte nach einer traumatisierenden Abklärung und Behandlung
wegen Kinderlosigkeit seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander
geschlafen.
Als ALBERT gegen fünfzig ging, hatte er eine intime Beziehung zu einer
anderen Frau, die er seiner Ehefrau zuliebe wieder abbrach. Dann hörte
er zufällig, dass besagte Frau in der Nähe wieder eine Beziehung
aufgenommen hatte. Sein Blutdruck ging trotz medikamentöser Einstellung
auf die unglaublichen Werte von 250/130 hoch und ließ sich kaum wirksam
korrigieren. Als er sich erlaubte, die andere Frau einmal anzurufen,
verschwand der Juckreiz in der Genitalgegend sofort. Was konnten wir
ALBERT anderes sagen, als dass er zwar ein treuer Ehemann sei, aber in
hoch gefährlicher Art mit seinem Leben spiele. Der
Körper fordert seine energetischen Rechte und wird sich nie durch
moralische Vorstellungen wirklich davon abhalten lassen. Bei
ernsthaften Erkrankungen der Sexualorgane findet man nicht selten eine
Unterdrückung der Sexualität; häufig aber
auch bei chronischen Darmentzündungen und anderen Störungen im
Unterleib. Die sexuelle Not bei Männern ab der
Lebensmitte ist eines der großen Tabuthemen unsere Zeit. Wie wir
wissen, gibt es bei älteren allein stehenden Männern einen dramatischen
Anstieg der Suizidrate nach der Pensionierung und nach dem Tod der
Partnerin (Bundesamt für Gesundheit, Suizid und Suizidprävention 2005).
Die hellsichtige
amerikanische Psychiaterin Judith ORLOFF [b.1951] hat in ihrem Buch "Die
Kraft in mir" [ULLSTEIN 2004], eine spirituelle Annäherung an die
Sexualität beschrieben: "Es ist Ihr Recht,
leidenschaftlich zu leben. Sie verdienen es, jeden Augenblick zu
genießen. Leidenschaft ist Ihr Geburtsrecht, und sie ist jederzeit zu
erlangen. Sie wartet darauf, von Ihnen angenommen zu werden, in der
Sexualität genauso wie in jedem anderen Bereich Ihres Lebens. Aber wie?
Das Geheimnis: Wenn Sie mit dem Herzen das Licht in allen Dingen
"sehen", vom Jäten in Ihrem Blumengarten bis zum Liebesakt, dann erblüht
die Leidenschaft. Wenn Sie nur mit Ihrem Verstand "sehen", verschwindet
dieses Strahlen. Sie haben die Wahl. Ihre Vision von der Welt hängt
allein von Ihnen ab" (2004). Dieser Text bringt das Wesentliche
einer spirituellen Sexualität zum Ausdruck. Und für Judith ORLOFF sind
es nicht bloß schöne Worte. So wie ich sie kennen gelernt habe, lebt sie
in dieser Weise und setzt, was sie schreibt, im praktischen Leben um.
Menschen wie MIRIAM sind derart weit von der Liebe zu ihrem Körper und
von der Leidenschaft entfernt, dass solche Sätze nicht bis in ihr Gemüt
vordringen können. Es geht für sie darum, Wünsche
und Bedürfnisse des eigenen Körpers so weit zuzulassen,
damit sie diese anders und
nicht mehr nur als zu bekämpfende Schwäche
wahrzunehmen vermögen. Kann MIRIAM solche ersten Schritte des
liebevollen körperlichen Genießens zulassen, kann sie vielleicht später
auch Leidenschaft in sich - erneut oder erstmals - entdecken. Ich habe
MIRIAM den Hinweis auf den Sex-Blog von Abby Lee gegeben. Sie hatte
keine Ahnung davon und noch nie so etwas gehört.
Zoe MARGOLIS [b.1971] alias Abby LEE berichtet, wie der von ihr ins Netz
gestellte meistbesuchte Sex-Blog der Welt
[http://girl withaonetrackmind.blogspot.co.at/] ihr
geholfen hat, sich selbst besser zu akzeptieren. In "Das Magazin"
schreibt sie: "Ich merkte, dass ich mit meinen
Freundinnen nicht so über Sex sprechen konnte, wie ich mir das wünschte.
Ich habe mich lange gefragt, bin ich eigentlich die Einzige, die in der
U-Bahn Typen mit engen Jeans auf den Schritt starrt und die sich bei
allen netten Männern, die ich kennen lerne, die Frage stellt: "Wie könnte
man den vögeln?""(20/2007:54). Und später im gleichen Artikel
sagt sie:
"Ich habe durch den Blog erfahren, dass ich nicht das
einzige "girl with a one track mind" bin (ein Girl, das nur das eine im
Kopf hat). Am Anfang dachte ich, meine Libido sei wohl etwas
außergewöhnlich, aber heute weiß ich, dass ich ziemlicher Mainstream
bin."
Das INTERNET kann wie kaum etwas anderes in unserer modernen Welt zu
weiteren Schritten in Richtung Befreiung der
Sexualität und in Richtung Ehrlichkeit mit
sich selbst verhelfen. Ich lese jedoch häufig Verurteilungen des
Internet. Die Medien bringen vorzugsweise
Internet-Missbrauchgeschichten. Manche Psychotherapie kann durch klugen
Internetgebrauch erspart oder abgekürzt werden. Abbey LEE beschreibt
beispielsweise, wie ihr eine Freundin geholfen hat, orgasmusfähig zu
werden, indem sie ihr riet, durch Masturbation mit den Händen und einem
Vibrator ihren Körper besser zu erforschen. Gleichzeitig äußert sie ihr Erschrecken über die etwa 25 % Frauen, die offenbar in ihrem Leben keine
Orgasmusfähigkeit erreichen können. Oder sie diskutiert mit einem
Filmautor die Sorgen der Männer um die Penisgröße.
Wahrscheinlich bleibt noch für einige Zeit das Internet der Ort, wo
Menschen mit ihren sexuellen Fragen und Nöten am ehesten Antworten
erhalten und verständnisvolle Gesprächspartner finden. Dies kann im
Internet in einer Offenheit und Intimität geschehne, die von den
Sexratgebern der Boulevardzeitungen [Klatschpresse] meist nicht gewagt
wird. Diesbezüglich benötigt das Internet ebenso eine Enttabuisierung,
beispielsweise was Alter und Sozialstatus betrifft. Es gibt Frauen in
mittlerem Alter mit erwachsenen Kindern und gutbürgerlichem,
akademischem Hintergrund, die eher verschämt gestehen, in Sex-Chats
[Plauderei, Gespräch, Unterhaltung via Internet] aktiv zu sein.
Beispielsweise eine Fünfzigjährige: "Ich konnte
Dinge fragen und Antworten bekommen, wie das mit meinem Ehemann nie
möglich gewesen wäre. Ich musste so alt werden, um die männliche
Sexualität in intimerer Weise verstehen zu können." Allerdings
ist die Zahl der Frauen, die wie MIRIAM finden, das gehöre sich nicht,
sehr viel größer. Natürlich gibt es auch Missbrauch im Internet, und
diejenigen, die etwas gegen Sex haben, werden in jedem Missbrauchsfall,
der bekannt wird, die gesuchte Bestätigung für ihre Meinung finden. Ich
ziehe es vor, hauptsächlich auf die positive Seite des Internets zu
fokussieren. Viele Menschen getrauen sich auch in der ärztlichen oder
psychotherapeutischen Beratung nicht, von sich aus die Themen
sexueller Mangel und sexuelle
Frustration anzusprechen. Der Zusammenhang mit Energielosigkeit,
Depression und verschiedensten körperlichen Erkrankungen bis zu Tumoren
ist für mich offensichtlich. Das Internet gibt Hoffnung, die sexuelle
Befreiung könnte allmählich doch noch vorankommen. Auch
die meist religiös begründete Unterdrückung der
Frau und ihrer sexuellen Selbstbestimmung
über weite Teile der Welt wird am ehesten durch die
Informationstechnologie ein wenig aufgeweicht werden können. In meiner
Jugend hatten wir natürlich nicht diese technischen Möglichkeiten. Aber
wenn beide Eltern außer Haus waren, ging es ins elterliche Schlafzimmer.
In Mutters Nachttischchen gab es ein Doktorbuch mit einer schwarz-weiß
gezeichneten nackten Frau. Obwohl sie ohne jede aufreizende Pose
dastand, hat sie unsere Fantasie kaum weniger angeregt, als es die
heutigen Internetbilder tun.
Wir haben in den 1960er Jahren von der sexuellen Revolution gesprochen.
Und diese Generation hat tatsächlich einige befreiende Schritte machen
können. Wie wir heute sehen, war es keine Revolution - höchstens eine,
die in den Anfängen stecken geblieben ist. Nicht nur die Erfahrungen von
Abby LEE und von Menschen in den Beratungsstunden sind Belege für
die Schwierigkeit, über sexuelle Erlebnisse,
Vorstellungen und Fragen offen reden zu können. Noch dramatischer
wird es bei allen Formen der vom Mainstream [Allgemeinheit] abweichenden sexuellen
Ausrichtungen.
Mein Analytiker und Lehrer Medard BOSS [1903-1990] hatte schon 1947 ein
Büchlein herausgegeben mit dem Titel "Sinn und Gehalt der sexuellen
Perversionen" [Kindler 1966]. Er hat anhand diverser Therapiefälle
gezeigt, wie die so genannten Perversionen
(wie man sie früher bezeichnete) ein Ausdruck von
Liebe sind, eine unablässige Suche nach
Liebe. Diese Liebe versucht, sich in den Menschen trotz aller
Blockierungen doch noch zu manifestieren und zu weiterer Entfaltung zu
kommen. Die Libido, diese Lebenskraft, diese Leben
erhaltende Kraft lässt nicht locker. Sie versucht immer, sich
durchzusetzen, selbst wenn die Menschen noch so leiden. Nirgends
bestätigt sich der Satz so deutlich wie hier, dass
alles, was man bekämpft, zurückkämpft. BOSS war für die damaligen
Verhältnisse revolutionär. Seine Haltung bedeutete eine Befreiung von
besonderer Qualität, die meine Einstellung zu
sexuellen Deviationen oder Paraphilien,
wie das heute genannt wird, grundlegend veränderte.
Damals, Anfang der 1970er Jahre, lief selbst die
Homosexualität noch
unter dem Titel Perversion. Fast alle Variationen
sexuellen Erlebens begegnen der Feindseligkeit und dem Hass
hauptsächlich der religiös geprägten Bevölkerung. Die Ergänzung
zum Büchlein von Medard BOSS wurde in einem Film von Mischka POPP
[b.1941] und Thomas BERGMANN [b.1943]
mit dem Titel "Herzfeuer" 1993 ausgestrahlt. Die ARD
[Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der
Bundesrepublik Deutschland] musste die Ausstrahlung wegen Widerstands
verschiedener Institutionen aus dem Hauptprogramm in die Nachtstunden
verlegen. Es ist ein ergreifender Film über
Variationen von sexueller Liebe. Er zeigt, wie Menschen mit vom
Durchschnitt abweichender Sexualpraxis zueinander gefunden haben und
mit Sadomaso, Latex, Transsexualität, Transvestismus und anderen
sexuellen Ausdrucksformen sich Liebe und
Geborgenheit schenken können.
Der Film lässt die seelische Neugeburt von Menschen erkennen, die nach
Jahren der Isolation, der Selbstvorwürfe, des Sich-ausgestoßen-Fühlens
einen Partner oder eine Gruppe gefunden haben, in der ihre Neigung
geteilt und beantwortet wird. Sie erfahren Liebe.
Sie können anfangen, sich selbst zu lieben, weil
sie nicht mehr allein sind und sich nicht mehr so abnormal empfinden.
Dies sollt auch die Hauptbotschaft des Christentums sein. Es sind
meistens Mitmenschen, denen wir irgendwann begegnen, die uns
ermöglichen, bei uns selbst Versöhnung und Frieden zu finden.
Wie sehr müssen jene selbst in ihren
Liebesmöglichkeiten blockiert sein, die solche Menschen mit abweichender
Sexualpraxis im Namen eines Gottes verurteilen.
Daher, ich wiederhole es, sind die Jugendlichen,
die missbrauchen, ein Symptom, das uns die aggressive Einstellung
gegenüber der Lebenskraft [Libido] in unserer Kultur spiegelt.
Und weil es sich um eine derart starke Kraft handelt, nehmen auch die
Bekämpfungsmaßnahmen ungewöhnliche Form und Stärke an. Ein Redakteur
eines deutschen Magazins für evangelikales Christentum hat in einem
Interview erwähnt, die sexuelle Unkeuschheit sei in der Bibel
gleichgestellt mit Geiz und Alkoholsucht. Er frage sich, warum man so
intensiv alles Sexuelle verfolge und verdamme, während man an Geiz und
Alkoholmissbrauch in den gleichen Gruppen kaum interessiert sei.
Einzig was man in sich selbst stark bekämpft, muss
man im Außen heftig verfolgen. Auf einer tieferen Ebene sind wir
alle in einem gemeinsamen Bewusstsein verbunden.
Pädophilie ist ein besonders
heikles Thema. Man wagt kaum, darüber zu schreiben. Es geht nicht darum,
die Pädophilie zu bagatellisieren. Ich äußere mich auch nicht dazu, wie
man mit den Tätern umgehen soll und wie man die Kinder am besten
praktisch schützen kann. Aber wir müssen uns im
Klaren sein: Die Libido wird durch das Thema Sexualität immer aktiviert.
Sie strebt immer ihrem Ziel entgegen, gemeiner weise ohne Ansehen der
Person und der moralischen Gebote. Das jeweils riesige Medieninteresse
zeigt, wie sehr das Thema die Menschen anspricht, wie sehr die Libido
bei den Menschen aktiviert wird.
Der wohl eindrücklichste Fall hat sich jüngst [2007] in Rignano Flaminio
[in der Region Latium mit ihrer Hauptstat Rom], Italien, ereignet. In
ganz Europa wurde über den so genannten [Kindergarten-] Pädophilen-Skandal berichtet, bei dem sechs Verdächtige inhaftiert
wurden. Kaum eine Zeitschrift oder Fernsehanstalt, die nicht
Journalisten vor Ort schickten. Nicht nur von Pädophilie war die Rede,
auch andere zugkräftige Reizwörter wie Satanismus, Vergewaltigung und
Internet wurden erwähnt. Das Thema
Kindsmissbrauch regt nun einmal die Fantasie und gleichzeitig deren
Abwehr bis zu Hass und Ekel ungemein an. Im Ort selbst spaltete
sich die Bevölkerung in die Schuldüberzeugten und die Unschuldsvermuter,
welche sich mit Demonstrationen und Gegendemonstrationen Gehör zu
verschaffen versuchten. Als überraschend fünf der sechs Verhafteten
freigelassen wurden, war das den internationalen Medien kaum mehr einen
Bericht wert; bestenfalls eine kleine Randnotiz, denn in dieser
Information steckte keinerlei "Kick" mehr. Wenn
wir uns diese Zusammenhänge in Bezug auf uns selbst eingestehen könnten,
würde schon Heilung und Entspannung beginnen. Unser Umgang mit
diesem Thema ist so, wie wenn wir auf dem Desktop ein uns nicht
passendes Symbol löschten, die Software aber unsichtbar weiterhin
vorhanden und aktiv ist. Wir täuschen uns über uns
selbst.
In den USA ist man dazu übergegangen, die Adresse
von Kinderschändern zu veröffentlichen. In Maine wurden daraufhin zwei
Männer von der Bevölkerung umgebracht. Einer davon war ein 19jähriger
Junge, der mit seiner 15jährigen Freundin intimen Verkehr hatte und das
mit dem Leben bezahlen musste. Die Journalistin eines schweizerischen
Regionalblatts hat mit Rückendeckung des Chefredakteurs in einem Beitrag
zur Pädophilie gefordert, man müsste den Tätern den Penis abschneiden,
sie ausgiebig foltern und schließlich töten. Warum
brauchen wir diese öffentliche Verdammung, die jederzeit in Volksjustiz
wie in den USA entarten könnte?
Man kann nur hoffen, dass die Medien trotz des
prickelnden Potentials, das in öffentlichen Verurteilungen steckt,
dieser Versuchung stärker widerstehen. Wir haben eine effiziente
Polizei mit guten Aufklärungsmethoden und ebenso gute Gesetze und gute
Gerichte. Der allgemeine Druck und die Stigmatisierungen gegenüber der
Pädophilie werden weiter zunehmen und dadurch die Fälle von
Kontrollverlust mit schrecklichen Folgen vermutlich auch.
Je mehr Panik und Verurteilung in der
Öffentlichkeit zunehmen, desto mehr werden die Täter bei Übergriffen in
Panik geraten und das Leid vergrößern. Überlassen wir die
Verurteilung beziehungsweise die Anwendung der Gesetze den Richtern.
Bleiben wir uns bewusst, dass auch diese Täter am
gemeinsamen Bewusstsein teilhaben.
In der Schweiz wurde die so genannte
Verwahrungsinitiative von der
Bevölkerung angenommen, nach der gewisse Sexualstraftäter lebenslang
ohne neue Prüfung ihrer Gefährlichkeit verwahrt werden können. Nach der
Annahme verlangten gewisse Politiker weitere Schritte, da die Zahl der
gemeldeten Fälle ständig zunehme (was aber statistisch anscheinend nicht
bestätigt wird). Offenbar hätte die Verwahrung nicht genügend
abschreckende Wirkung, wurde argumentiert. Bei meinen Ausführungen geht
es genau um diese Frage. Aus spiritueller Sicht,
wonach das Bewusstsein der Menschen auf einer tieferen Ebene eins ist,
kann durch Verwahrung keine wirksame Abschreckung erreicht werden.
Der Sinn der Verwahrung liegt in der höheren Sicherheit für die
Bevölkerung. Die Abschreckung der Täter ist eine
Illusion, weil die Sexualität sich wehrt und früher oder später
mindestens kurzzeitig die Kontrolle bei entsprechenden Menschen
übernimmt. Die Kraft, die wir hier
bekämpfen, hat die Verantwortung dafür, dass das Leben auf der
Erde weitergeht. Sie wird sich mit allen Mitteln
wehren und eben in ihrem Vorwärtstrieb weder nach Aussehen der
Person noch entlang irgendwelcher moralischer oder juristischer
Leitgedanken wirken. Dies ist Aufgabe der anderen Instanzen in unserer
Person. Diese werden aber überlistet, sobald die Lebenskraft [Libido] zu
sehr unterdrückt wird. Ihr wichtigstes Ziel ist
die Fortpflanzung durch sexuelle Vereinigung.
Ich frage mich, ob Jesus das gemeinsame
Bewusstsein von Opfern, Tätern und Gerechten im Auge hatte, als
er riet, niemanden zu richten und seine Feinde zu lieben. Vielleicht hat
er wirklich das letztlich Nutzlose des üblichen Tuns durchschaut. Es sei
nochmals betont, damit sind überhaupt nicht der
bestmögliche Schutz der Bevölkerung und die
Anwendung der staatlichen Gesetze in Frage gestellt.
Verdrängte Kräfte kommen fast immer bei den
Schwächsten zum Durchbruch. Eben bei
Jugendlichen oder Personen mit einer
unsicheren Kontrolle. Eigentlich wissen wir das seit [Sigmund]
Freud. Es ist kein Zufall, dass amerikanische Politiker, die sich
besonders im Kampf gegen Homosexualität und Pädophilie profilierten,
schließlich als heimlich Praktizierende des von ihnen Bekämpften
enttarnt wurden. Ebenso wenig sind die pädophilen
Übergriffe in der Priesterschaft Zufall.
Es gab nur wenige Bücher, die so viel aufsehen erregt haben, wie
"Lolita" [1955] von Vladimir NABOKOV [1899-1977]. Die Kritiker waren
entsetzt über die sehr freizügige Darstellung sexueller Szenen mit einer
[12jährigen, pubertierenden] Minderjährigen [Hebe-philie] in einer Zeit
[1955], als auch unter Erwachsenen kaum in dieser freizügigen Art über
Sex gesprochen wurde. Der Roman hat es trotzdem oder gerade deshalb
geschafft, eines der bekanntesten Werke der Literatur zu werden. Als
NABOKOV das Unaussprechliche zur Sprache brachte, fing man an, über das
Thema zu reden. Doch das offene Reden wurde nicht zu Ende geführt.
Wir haben die Selbstreflexion weiterhin der
Verleugnung und dem Versuch der Repression [Unterdrückung, Hemmung]
geopfert.
Wollte man alle Themen unterdrückter und verdrängter Sexualität
ansprechen, würde die Liste sehr lang. Was noch wenig diskutiert wird,
sind die Veränderungen der Sexualität
durch den Gebrauch von Kondomen
mit dem entsprechenden Lustverlust.
Ein Thema, das von Anti-Aids Organisationen fast gänzlich totgeschwiegen
wird. Nur Ehrlichkeit könnte unterstützend sein, und Ehrlichkeit würde
zu einer nicht verurteilenden, spirituellen Einstellung gehören.
Das Thema Frau mit jüngeren Partner
ist kaum andiskutiert, obwohl finanziell unabhängige, prominente Frauen
die ersten Schritte gewagt haben. Frau mit jungem, finanziell
unterstütztem Freund beispielsweise in Afrika ist, obwohl es nicht so
selten vorkommt, fast gänzlich der Verschwiegenheit anheim gegeben.
Untersuchungen legen uns nahe, dass ein Drittel
bis zur Hälfte der reifern Frauen an sexuellem Mangel leiden.
Das Thema ältere Männer mit jungen
Frauen wird zwar diskutiert, allerdings nicht von den Betroffenen
selbst. Meist geschieht es abwertend, spöttisch oder verurteilend.
Anders wäre es kaum zu erklären, dass die junge Freundin eines in der
Gesellschaft bekannten Mannes immer wieder als früheres Erotikmodel
bezeichnet wird. Es steckt auch da der Kick drin. Es gab sogar
Kommentare wie: "Wie kann sich ein Mann nur so lächerlich machen?"
Immerhin stand in der "Weltwoche" auch: "Die
gute Gesellschaft ist irritiert. Jeder ehrliche Mann versteht ihn."
Auch da mischen sich Abwehr, vordergründige Verachtung mit
hintergründiger Faszination und Neid. Es hat vermutlich auch mit der
generellen Abwertung des Materiellen zu tun, wenn Geld als erotisches
Stimulans und Liebeselixier abgewertet wird. Aber Geld und Status ist
bei Männern nun mal sexy, und vielleicht auch bei Frauen.
Noch übler wird das Geld als Vermittler der sexuellen Erfüllung bei der
Prostitution verurteilt. Die
Ächtung der Freier ist noch viel stärker als die der anbietenden
Frauen. Es ist ein deutlicher Fortschritt, dass einige betroffene Frauen
überhaupt einen "Welthurentag" [Internationaler Hurentag -
International Sex Worker's Day,
seit 2. Juni 1975]
ins Leben
gerufen haben, auch wenn er kaum bekannt ist. Die soziale Sicherung der
Sexarbeiterinnen ist ein dringendes Anliegen. Nur
wird kaum thematisiert, wie sehr die Not dieser Frauen und der
Frauenhandel in der gesellschaftlichen und moralischen Ächtung der
bezahlten Sexualität ihre Ursache haben. Solange die Sexualität
versklavt bleibt, wird es auch Sexsklavinnen geben. Und die Männer? Man
könnte sehr viel für die Gesundheit der Männer weltweit tun durch die
Aufhebung von Ächtung und Verurteilung der Freier. Dass Betroffene
selbst derartiges vorschlagen, wie das die Prostituierten getan haben,
ist nicht zu erwarten. Der soziale Tod derjenigen, die sich outen
würden, wäre vorbestimmt. Es wird kaum gelingen,
die Prostitution aus dem Dunstkreis von Ausbeutung und Gewalt zu
befreien, solange nicht Ächtung der Freier überwunden ist. Ich
hoffe noch zu erleben, dass die WHO einen "Weltfreiertag"
proklamiert und damit für mehr Wohlergehen ebenso vieler Frauen wie
Männer sorgt. Viele Fortschritte in Bezug auf Gesundheit und Freiheit
haben als Utopien begonnen.
Eigentlich dürfen wir uns freuen über die Stärke
der Lebenskraft, die sich auf keine Weise definitiv verdrängen
und unterdrücken lässt. Unser Überleben hängt
davon ab. Gibt es heute noch irgendeinen
Grund, welcher der Vernunft standhält, anderen Menschen vorzuschreiben,
wie sie ihre Sexualität zu leben haben, solange sie niemanden schaden?
Warum soll nicht jedem Menschen die Freiheit zugestanden werden, seinen
eigenen Weg der sexuellen Erfüllung zu finden und die darin enthaltenen
spirituellen Möglichkeiten im glücklichen Fall zu entdecken? In
der "Basler Zeitung" vom 1. Oktober 2007 äußerte eine PROSTITUIERTE mit
dem Namen KATARINA, sie möge den Beruf, weil es der ehrlichste sei und
man es zu 99 % mit netten Menschen zu tun hätte. Und wenn die Menschen
immer so miteinander umgehen würden, hätte man das Paradies auf Erden.
Mögen doch die Menschen, die so sehr das christliche Liebesgebot
verkünden, sich diese Zeilen zu Herzen nehmen. Richard DAWKINS [b.1941]
hat in seinem hypothetischen Entwurf von neuen Zehn Geboten eines davon
so formuliert: "Erfreue dich an deinem eigenen
Sexualleben (solange es keinem anderen Schaden zufügt) und lass andere
sich des ihren ebenfalls erfreuen, ganz gleich, welche Neigungen sie
haben - die geh-en dich nichts an" (Dawkins: ["Der Gotteswahn"
Ullstein] 2007:376). Ich habe mich oft gefragt, was geschehen würde,
wenn deutliche Beweise dafür gefunden würden, dass Jesus verheiratet war
und Kinder hatte, wie das Dan BROWN [b.1964] im Roman "Der Da Vinci Code
" [2003] beschreibt. Oder man fände heraus, dass er nicht zu den
Prostituierten ging, "um ihnen ihre Würde zurückzugeben, indem er mit
ihnen aß", sondern indem er auch ihre Dienste in Anspruch nahm. Wenn er
wirklich ein Mensch war und überragende Weisheit und Durchblick besaß,
kann er kaum die Lebenskraft verkannt und unterdrückt haben.
Martin SCORSESES [b.1942] Film "Die letzte Versuchung Christi"
[1988]
[Nikos Kazantzakis (1833-1957) Roman: "Die letzte Versuchung Christi" 1951]
rief international wütende Proteste hervor, obwohl der Regisseur die
Versuchung Jesus` nur als Fantasie in den letzten Momenten vor dem
Kreuzestod dargestellt hatte. Sogar ein Brandanschlag auf ein
französisches Kino wurde verübt. Eine entsprechende Kritik behauptet,
der Film "verfehle den zentralen Aspekt des christlichen Glaubens, die
erlösende Anteilnahme Gottes am existentiellen Sein der Menschen" (Wikipedia).
Es ist mir unverständlich, wie man vom
existentiellen Sein des Menschen sprechen kann und gleichzeitig die
entsprechende Person als asexuelles Wesen darstellt. Unlängst
hatten wir die internationalen Dispute wegen der [12-]
Mohammed-Karikaturen [in in der dänischen Tageszeitung
Morgenavisen Jyllands-Posten, am 30.9.2005 veröffentlicht] und es wurde von den Muslimen
Toleranz ähnlich wie in unserer westlichen Gesellschaft gefordert.
Ist diese Toleranz bei uns wirklich größer? Kann
ein Karikaturist es sich leisten, Jesus mit einer Geliebten oder gar
Prostituierten im Arm zu zeichnen? Gäbe es wieder Brandanschläge wie auf
das französische Kino? Die katholische Volkspartei, eine
politische Splittergruppe, fordert ja eine Verschärfung der
Rassismusstrafnorm, um den Papst, Maria und die Heiligen vor Spott zu
schützen. Ohne Freiheit gibt es keine Liebe, nicht
nur was die Sexualität angeht. Die Sexualität braucht die Liebe
nicht unbedingt; jedenfalls nicht in jedem Lebensalter.
Woher kommt die Forderung, die Sexualität müsse
sich immer mit der Liebe vergesellschaften? Ich könnte nie
glauben, diese Forderung sei besonders gottgefällig. Aber in Freiheit
ist die Chance am größten, dass sich Sexualität und Liebe zusammentun
und gemeinsam wachsen. Hingegen würde ich die Behauptung vorbehaltlos
unterstützen, die Liebe müsse immer mit der
Freiheit vergesellschaftet sein, um ihre Kraft wirken lassen zu können.
Ich kann mich deutlich an das Gefühl der Befreiung, der Freude, der
Leichtigkeit und der inneren Kraft erinnern, als ich zwischen siebzehn
und zwanzig Jahren den Zusammenhang zwischen Freiheit und Liebe
erkannte. Alle Liebe, die nicht aus der Freiheit
entsteht, hat bereits ihre göttliche Qualität verloren. Sie hat
keine wirkliche Kraft. Sie ist nur ein Abklatsch von Liebe. Die Qualität
jeder Entscheidung und jedes Gefühls ist von dieser Liebe und dieser
Freiheit abhängig. Allem, was in dieser Hinsicht aus Angst vor Strafe,
aus Schuldgefühlen, aufgrund moralischer Gebote oder Ähnlichem entsteht
oder provoziert wird, fehlt die göttliche Qualität.
Der Grund für die Liebe und für Liebestaten mit
heilender Qualität ist die Liebe selbst. Kein Gebot, keine
Strafandrohung kann etwas zum Glanz der Liebe hinzufügen; sie können
immer nur wegnehmen, beschränken, begrenzen, erniedrigen. Jesus von
Nazareth wird zitiert, wie er die Liebe anpreist und empfiehlt. Ich kann
das als Empfehlung und Ratschlag begreifen, nie als Gebot oder
Vorschrift. Ich traue ihm zu, dass er wusste, dass
alle befohlene Liebe keine Liebe mehr ist. Ein Versuch zur Liebe
aus Angst vor Strafe taugt nichts. Sie wäre nicht mehr kraftvoll genug,
die ganze Schöpfung voranzubringen. Ich behaupte, die Welt würde keinen
Deut besser, wenn jemand aus Angst vor Strafe sein Vermögen den
Bedürftigen schenken würde. Hier begegnen wir einem seltsamen Paradox.
Die göttlich freie Liebe jedes Geschaffenen kann
vermutlich nur in der Gottferne erkannt werden. Wir haben uns
wohl vom Göttlichen scheinbar abgetrennt, weil wir die höchste Form der
Göttlichkeit als eigenständiges Bewusstsein, als Individuum erkennen und
erleben wollten.
Möglicherweise haben Atheisten
["Menschen ohne postulierten Gott"] die bessere Chance, die wahre Qualität
der Liebe zu erkennen. Sie sind nicht in Gefahr, aus Angst vor einer
ewigen Verdammnis und Ähnlichem sich zu einen Abklatsch von Liebe zu
bekennen. Sie haben die Chance, den unauslotbaren,
göttlichen Glanz der Liebe um der Liebe selbst willen zu
begreifen. In den intensiven Jugendjahren der Auseinandersetzung war
dies meine entscheidende Erkenntnis: Der bedingungslosen Liebe höchste
Würde und höchste Kraft, eine freie, göttliche Spiritualität kann nur
von Atheisten oder von Heiligen erkannt werden, die jede Form von
Dogmatismus durchschauen und jede Angst vor Strafe verloren haben.
Welch ein Glück für einen Maturanden Anfang der 1950er Jahre, ein Buch
wie "Die Pest" [1947] von Albert CAMUS [1913-1960, 1957 Literatur
Nobelpreis] zu finden und lesen zu können. Was auch immer die
Rezensenten und Interpreten schrieben, mein Verständnis dieses Werkes
war klar und gab mir Kraft und Hoffnung: Der Arzt und Atheist [Dr.
Bernard] Rieux hat in seinem Herzen die Liebe gefunden. Kein Gebot,
keine Angst vor Strafe, einfach seine Erfahrung aus Herz und Verstand
hat in der von ihm als absurd empfundenen Lebenssituation die Liebe
aufbrechen lassen. Deshalb war und blieb er gesund. [Jesuiten-] Pater
Paneloux lebte in der Angst vor der Strafe Gottes und unter dem Befehl
zur Liebe. Darum war er verpestet und starb auch an der Pest.
Die Pest unserer Welt, so verstand ich die
Hauptaussage und verstehe sie immer noch, ist die
Angst vor Strafe, die jede Liebe entkräftet und sie ihres göttlichen
Glanzes beraubt. So gelangte ich zur paradoxen Einsicht, wonach
die zeitgemäße Spiritualität eher bei Atheisten gefunden werden könnte.
Die Religionen, die einen strafenden Gott
postulieren, haben die Chance vertan, diese göttliche Liebe aufscheinen
zu lassen. In einer solchen Straf-Verpackung ist sie von Grund
auf verpestet. Ich staune über die Genialität und Spiritualität von
CAMUS, der für diese Ausprägungen das Bild der Pest gefunden hat. Im
Unterschied zu den Figuren im Roman von CAMUS erkennen wir in unserem
Leben die Verpestung oft nicht mehr, und wir realisieren nicht, welche
Todesprozesse dadurch schon stattgefunden haben. In meinem Verständnis
hat Jesus mit seinen Worten, man solle die Toten ihre Toten begraben
lassen, deutlich darauf hingewiesen. Verstorbene können nicht gemeint
sein, also muss er Menschen gemeint haben, die geistig-seelisch tot
sind.
Ein weltweiter spiritueller Aufbruch ist ohne das
Erkennen der Göttlichkeit unserer Sexualität kaum denkbar. Der
häufige Zusammenhang von unterdrückter Sexualität
und Unterdrückung der Frauen ist bekannt. Die befreite, dem Leben
verpflichtete Sichtweise wird heißen, alle Verunglimpfungen
[Herabwürdigungen durch eine Äußerung, Darstellung oder Handlung] und
negativen Zuschreibungen fallen zu lassen. Es wird volle persönliche
Respektierung und Freiheit bedeuten für alle Frauen und Männer, für
Homosexuelle und viele andere Gruppierungen, deren sexuelle Ausrichtung
nicht dem Mainstream entspricht. Die
befreite Sexualität wird in
besonderem Maße Ausdruck sein für die volle Würde und den vollen
Respekt, den Menschen verschiedenster sexueller Ausrichtung genießen,
frei von religiös bedingter Unterdrückung und religiös motiviertem Hass.
Die Befreiung der Sexualität kann auf vielen Kanälen fortschreiten. Oft
wird eine Sexualisierung des öffentlichen Lebens in den Medien beklagt.
Diese so genannte Sexualisierung ist
bereits Ausdruck eines Mangels, einer mangelnden
Integration der Sexualität im Leben sehr vieler, wahrscheinlich der
Mehrheit der Menschen. Die modernen Medien spielen eine wichtige
und oft durchaus positive Rolle, von der Boulevardpresse [Klatschpresse]
über die People-Magazine bis zum Fernsehen. Auch die Werbung hat eine
wohltuende und befreiende Wirkung, indem sie die Wichtigkeit und
Ansprechbarkeit auf Erotik, Sexualität und Schönheit erkennt und stärkt.
Die Werbung ist auf ästhetisch ansprechende Bilder angewiesen. So
vermittelt sie eine aufeinander abgestimmte Kombination erotischer und
ästhetischer Impulse. Der Sinn für Schönheit wird gestärkt. Leider
erlauben sich manche Menschen nicht, solche alltägliche erotische und
ästhetische Werbung zu genießen, auch wenn eine entsprechende
Stimulation ihrer seelischen Befindlichkeit und körperlichen Gesundheit
nur gut täte.
Alice SCHWARZER [b.1942] findet, junge Frauen machten sich lächerlich,
wenn sie sich entsprechend der heutigen Mode attraktiv kleiden (NZZ
[Neue Zürcher Zeitung ],
21.10.07). Man könnte ja nur für kurze Zeit den "sexy Schmollmund
ziehen". Steckt da nicht gerade die Verachtung der Frauen drin, die
Alice SCHWARZER im gleichen Interview anprangert? Auch der "sexy
Schmollmund" ist nicht lächerlich und braucht keine Verachtung.
Jeder Mensch entscheidet selbst, warum seine Würde
verletzt wird. Da sollte Alice SCHWARZER genauso zurückstehen
mit Urteilen über andere, wie wir dies von den Religionen erhoffen.
Diese Erfahrung kann ohne Respekt und Freiheit nicht gewonnen werden.
Die sexuelle Kraft als schöpferische Energie voll
zu respektieren und zu leben, würde
einen machtvollen Schritt zu einer allgemein
wieder erwachten Spiritualität bedeuten und hätte sehr viel mit
der Befreiung der Frauen zu tun. Und eine
solche Haltung würde viel zur Eindämmung von Missbrauch beitragen.
Ich schließe dieses Kapitel mit ein paar Zeilen von Judith ORLOFF:
"Sie gewinnen an innerer Kraft, wenn sie
Sexualität so verstehen, dass sie eine intuitive Lebensweise fördert
und Ihr ganzes Wesen mit Leben erfüllt. Sie ist ein Mittel, um
energetische Offenheit in Ihrem Inneren, im Umgang mit anderen und mit
Gott zu erreichen. Liebe schafft in uns ein Gefühl von Fülle und
Verbundenheit. Aus Erfahrung weiß ich, dass es sich lohnt, dafür zu
kämpfen. Dennoch habe ich festgestellt, dass der Weg zur Erweckung der
Sexualität nicht immer gerade verläuft. Als Frau musste ich mich erst
mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich viele Facetten meines Wesens
gefahrlos zum Ausdruck bringen konnte. Das braucht Zeit. Intuition,
Sexualität und Spiritualität, nach und nach begannen sie sich zu einem
wunderbaren Gewebe zu verflechten" (Orloff ["Die Kraft in mir"
Ullstein] 2004:333
PD
Dr. med. Jakob Bösch
war Chefarzt der Externen Psychiatrischen Dienste Baselland und
Privatdozent für Psychiatrie und Psychosoziale Medizin an der
Universität Basel bis Ende Januar 2006.
Er erhielt nach dem Medizinstudium ein Postdoc-Stipendium für
Experimentelle Medizin und arbeitete am Institut für Hirnforschung der
Universität Zürich. Wechselte an die PUK [Psychiatrische
Universitätsklinik] Zürich und arbeitete später 10
Jahre an der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich,
zuletzt als leitender Arzt und Privatdozent.
In dieser Zeit gründete er die
ersten Gesundheits-Selbsthilfegruppen in der Schweiz und baute in zwei
Zürcher Quartieren die ersten Organisationen für Nachbarschaftshilfe auf. Er beschäftigt sich seit langem mit Hellsichtigkeit ["Fähigkeit zur
nicht-sinnlichen Wahrnehmung"] und sammelte
Erfahrungen mit Geistigem Heilen, wobei die Themen Selbstheilung und
Versöhnung immer mehr in den Vordergrund rückten. Seit 2004 arbeitet er
mit dem hellsichtigen Medium Anouk Claes (Theologie u. Psychologie
Studium UNI Basel) zusammen. Er schrieb vier Bücher und ist Preisträger
der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie, der Schweizerischen
Vereinigung für Parapsychologie und des Schweizerischen Verbandes für
Natürliches Heilen.
Text-Quelle:
Jakob Bösch: „Versöhnen und Heilen: Spiritualität, Wissenschaft und
Wirtschaft im Einklang“ Kapitel: Freiheit - Urgrund aller Liebe. Seite
88 - 111. AT VERLAG 2008 ISBN: 978-3-03800-386-1
Portrait:
www.schule-der-geistheilung.de/
[Meine Ergänzungen]
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