FREIHEIT
Urgrund aller Liebe

Aus: Jakob Bösch: „Versöhnen und Heilen: Spiritualität, Wissenschaft und Wirtschaft im Einklang“
Kapitel: Freiheit - Urgrund aller Liebe. Seite 88 - 111. AT VERLAG 2008 ISBN: 978-3-03800-386-1



"Genau so, wie eine Mutter ihr einziges Kind liebt
und unter Einsatz ihres Lebens schützt,
sollten auch wir grenzenlose, allumfassende Liebe
für alle Lebewesen entwickeln,
wo immer sie sich auch befinden mögen.


Unsere grenzenlose Liebe
sollte das ganze Universum durchdringen,
nach oben, nach unten und überall hin.

Unsere Liebe wird keine Hindernisse kennen,
und unsere Herzen werden vollkommen frei
von Hass und Feindschaft sein.

Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen –
solange wir wach sind,
sollen wir diese liebende Achtsamkeit
in unserem Herzen bewahren."


Buddha - Siddhartha Gautama
(563 - 483 vuZ)
Quelle: www.buddhanetz.org/dharma/buddhismus.htm






Jakob Bösch
2013

Vor kurzem kam MIRIAM, eine sechsunddreißigjährige, allein lebende und kinderlose Frau, in die Beratung. Sie ist in einem medizinischen Beruf tätig und hat eine eigene Praxis, in der sie auch komplementärmedizinische Behandlungen anbietet. MIRIAM war früher magersüchtig. Jetzt leidet sie noch an unregelmäßigem Überkonsum von Süßigkeiten und Alkohol. Ihr für sie beschämendes Leiden ist ihr Zwang zum Stehlen [früher: Kleptomanie]. Sie kann öfter der Versuchung nicht widerstehen, Süßigkeiten, ein Fläschchen Prosecco oder Ähnliches in einem Laden mitzunehmen. Diese Symptomatik hat sich stark ausgeprägt, seit sie von ihrem Ehemann getrennt ist. Ich frage sie, ob sie noch sehr die Trennung vom Ehemann verarbeiten müsse oder sich wieder frei fühle für eine neue Beziehung. Sie wolle keine Beziehung mehr, bis sie gelernt habe, allein zu leben, war die schnelle Antwort. Man hatte ihr inner- und außerhalb ihrer Psychotherapien gesagt, sie müsse lernen, selbstständig zu leben. Es war qualvoll zu hören, wie sehr sie mit ihrem Verstand gegen ihre Sehnsucht nach Geborgenheit, Nähe und Zärtlichkeit ankämpfte. Ein Kampf gegen sich selbst ist meist aussichtslos, weil das Wichtigste, nämlich die Liebe fehlt. Das gilt im Besonderen, wenn es sich um grundlegende Bedürfnisse unserer leiblichen Existenz handelt.

So hatte sie regelmäßig ein großes Verlangen nach einem Glas Prosecco - und nach dem ersten Glas schmolzen die Schranken ... Sie setzte sich dann häufig ins Auto, um irgendwo Süßigkeiten zu stehlen, oder wenn sich keine Möglichkeit dazu ergab, sie halt zu kaufen. MIRIAM übernahm von ihrer Mutter die Idee, dass negative Kräfte oder Wesen in ihr hausten und sie zu solch schlechten Handlungen antrieben. Wenn MIRIAM sich isoliert fühlte, sagte ihr die Mutter, sie sei mit der Natur, mit Gott und mit den Engeln verbunden. MIRIAM war willens, der Mutter zu glauben und verstand nicht, warum sie von dieser Verbundenheit so gar nichts spüren konnte. Auch das machte sie sich zum Vorwurf. MIRIAM war erstaunt zu hören, das Glas Prosecco sei ein erster Heilungsversuch oder Heilungsschritt. Durch den Alkohol wurden Verstand und Wille etwas gelähmt, und der Körper konnte ein bisschen von seinem Recht einfordern.

Im Gespräch wurde immer deutlicher, wie sehr MIRIAM Körper und Seele unablässig bestrafte und unterdrückte. Ihr Mann wollte nicht mehr mit ihr zusammen sein, weil sie nicht mehr bereit war, jedes ganze Wochenende im Sport ans körperliche Limit zu gehen. Jahrelang hatte sie sich untergeordnet und alles mitgemacht. Ihre liebsten Schokolade-Trüffel verschenkte sie, in der Absicht, ihren Körper endlich von den Süßigkeiten zu entwöhnen. Bei starkem Regen erlaubte sie sich nicht, mit dem Auto zum mehrere Kilometer entfernten Bad zu fahren - obwohl sie sich dann neben ihrer elegant gekleideten Kollegin wegen ihres Fahrrad-Outfits schämte.

Die Unterdrückung ihrer Sexualität führte sie auf Kindheitserlebnisse zurück. Ihre Erlebnisfähigkeit mit Selbstbefriedigung oder mit Hilfe eines Vibrators zu erkunden, erlaubte sie sich nicht, weil es sich nicht gehöre. Sie hatte niemanden, mit dem sie intimere Gefühle und Fragen austauschen konnte. Auch die vielen Möglichkeiten, das Internet zu nutzen, erlaubte sie sich nicht. Für MIRIAM geht es darum zu lernen, wie durch ihr zwanghaftes Stehlen der Körper ihr klar zu machen versucht, wie er ständig bezüglich Erfüllung seiner Bedürfnisse von ihr selbst bestohlen und beraubt wird. Einzig in der Not erlaubte sie sich, Schmuck und Kleider zu kaufen. Aber offenbar trug sie nur einen kleinen Teil davon. Wenn wir allzu lieblos mit unserem Körper umgehen, weiß dieser sich zu wehren. Bei MIRIAM will er zeigen, wie ungeliebt er ist, wie betrogen er sich fühlt. Bei Fitnessfreaks und besonders bei Extremsportlern findet man die Bestrafung des Körpers entgegen der allgemeinen Ansicht nicht selten. Aber auch bei allzu Gesundheitsbewussten Menschen wird der Körper gequält, indem des Körpers eigene Stimme zugunsten von allzu drastischen, dem Verstand entspringenden Vorschriften überhört wird. Ein Zenmönch, der in Amerika Seminare gab, war so frei, seinen allzu Gesundheitsbewussten Gastgebern mitzuteilen: "I don't like mac-robiotik [Macrobiotik], I like mac-donald."

Mangelnde Selbstliebe ist außerordentlich stark verbreitet. Viele spirituelle Menschen sind mit sich selbst unzufrieden. Sie kommen auf dem Weg, den sie sich ausgedacht haben, nicht schnell genug weiter. Deshalb verurteilen sie sich wegen zu wenig ernsthafter Meditation, wegen zu starker Ausrichtung auf das irdische Leben, wegen Abhängigkeit, wegen mangelndem Vertrauen, wegen negativem Denken, wegen schlechter Gefühle, wegen zu viel und zu wenig Interesse an Sex ... Alles aufzuzählen ergäbe eine sehr lange Liste. Im ersten Kapitel habe ich mich zu dem aus der Bergpredigt stammenden Satz, man solle vollkommen sein, geäußert. In dem Moment, wo wir uns selbst ohne Bedingungen lieben und mit uns versöhnt sind, sind wir vollkommen. Es spielt dabei keine Rolle, wo wir auf dem von uns ausgedachten Entwicklungsweg sind. Wir haben immer ich habe es schon mehrfach formuliert - die Möglichkeit, uns zu akzeptieren und uns mit uns selbst zu versöhnen. Schlimmstenfalls können wir uns mit unserer Unversöhnlichkeit versöhnen. Wir können akzeptieren, dass wir uns nicht akzeptieren können.

Der Heiler Joel S. GOLDSMITH [1892-1964] war sehr hilfreich für mich. Wir können irgendetwas bekämpfen bei uns oder bei anderen - und kommen dann kaum ohne Verstrickung davon. Die körperlichen Bedürfnisse zu bekämpfen hat in der religiösen Tradition einen hohen Stellenwert. Die Ratschläge von Jesus, sich eher die Augen auszureißen oder die Hände und Füße abzuhacken, wenn sie zur Sünde verführten, sprechen eine deutliche Sprache. MIRIAM reißt sich die Augen nicht aus und hackt sich die Hände nicht ab. Aber wie sie mit sich selbst umgeht, kommt dem doch sehr nahe.

Entscheidend scheint mir, ob wir wirklich die Schöpfung als Einheit sehen können, als Bewusstsein, in dem alles mit allem verbunden ist. Dann ist die Spaltung zwischen Materie und Geist, zwischen Körper und Seele aufgehoben. Ich bin stets zum gleichen Schluss gekommen: Das Göttliche lässt sich nicht begrenzen, nicht aufteilen, nicht in gut und Böse spalten. Wir sind immer in dem Moment vollkommen, in dem wir uns als vollkommen zu sehen vermögen. Und da liegt das Paradox. Je bedingungsloser wir uns lieben können, ohne dass wir Vorleistungen erbringen müssen, desto leichter geschehen Veränderungen. Von Petrus oder von Paulus wird im Neuen Testament, genauer in der Apostelgeschichte berichtet, dass er einmal auf einem Dach eine Vision hatte: Gott befahl ihm, Getier zu essen, das bei den Juden als unrein galt. Auf seine Abwehr hin wurde ihm gesagt, was Gott für rein halte, brauche er nicht für unrein zu halten. Er verstand das als Auftrag, auch die Heiden als würdig für die neue Botschaft zu erachten. Man hätte diese Vision auch als Aufforderung verstehen können, mit sich selbst nicht so verurteilend umzugehen. Für mich steht diese Vision für fast alles, was wir ablehnen, für schlecht, schädlich und böse halten.

Auf die Materie im allgemeinen komme ich später zu sprechen. Hier geht es speziell um unseren Körper, der auch zur Materie gehört. Wie konnte es so weit kommen, dass wir unseren Körper nicht mehr als Manifestation dieses unbegrenzten Lichtes, der unbegrenzten Liebe sehen können? Nicht mehr wahrnehmen können, dass dieser Körper genauso zum Ganzen gehört wie alles andere. Wenigstens haben uns die Quantenphysiker aufgezeigt, dass alles, also auch unser Körper, aus Schwingungen besteht, nicht anders als das sichtbare Licht. Wir können viel zu unserer Heilung und Versöhnung beitragen, wenn wir uns jeden Tag nur ein oder zwei Minuten vorstellen, wie unser Körper letztlich aus nichts anderem als aus Licht besteht. Für einige mag es hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, wie alle Zellen, alle Organe und der Körper als Ganzes ständig mit Laserlicht kommunizieren, so wie uns das die Biophotonen-Forscher aufgezeigt haben.

Siehe ZITATE: Fritz Albert Popp: Biophotonen informatives Laser-Licht >>>

Die Tiere in der lichtlosen Tiefsee, die ständig Licht durch ihren Körper fließen lassen, können uns etwas von unserer eigenen natur aufzeigen. Welch herrliches Geschenk haben wir uns gemacht mit der Schaffung unseres menschlichen Körpers!

Wie konnte das Wunder unserer leiblichen Existenz zum Sündenfall umgeschrieben werden und die Sexualität zur Hauptsache zu einer Kraft des Teufels? Dieses Thema beschäftigt mich nahezu mein ganzes Leben, ohne dass ich eine klare Antwort fand: Woher kommen diese Verurteilungen in den religiösen Traditionen? Die ganze Erde ist zu einer Art Strafcamp, wo wir nur durch unterwürfiges Verhalten auf Begnadigung hoffen können. Durch die SEXUALITÄT sind wir mit einer unglaublich starken Kraft ausgestattet. Man kann sie als LEBENSKRAFT schlechthin sehen. Heute noch weithin gültige Normen fordern, dass wir diese Kraft drosseln oder in allzu eng umschriebene Kanäle leiten. Wir kennen die religiöse Verurteilung der Homosexualität. Die Verurteilung der Sexualität geht auch heute noch sehr viel weiter. Von einem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik, der sich neben-amtlich im Internet als christlicher Sexualberater betätigt, heißt es: "Außereheliche Sexualität (Hurerei), die Betonung der visuellen Reize (Augenlust), das Begehren einer anderen Frau, also all diejenigen Aktivitäten, die bei der Internet-Sex-Sucht eine Rolle spielen, werden deutlich als "Sünde", also als Abweichung vom guten und geraden Weg bezeichnet. Mehr noch: Sie hemmen das geistliche Leben und die Beziehung zu Gott."

Es wird dort auch darauf hingewiesen, dies könne zu dämonischer Besessenheit führen, die allenfalls durch geistlichen Beistand wie Exorzismus geheilt oder gebessert werden könne. Ich führe dieses Zitat an, um die riesigen Diskrepanzen aufzuzeigen, zwischen denen nicht nur Erwachsene, sondern auch Jugendliche sich zurechtfinden müssen. Die Kraft, von der das Überleben der ganzen Schöpfung abhängt, wird unmittelbar assoziiert mit Satan, Dämonen, Besessenheit und Verhinderung eines spirituellen Lebens. Überall, wo wir Übles erwarten, wird Übles geschehen. Denn wir haben alle teil am selben Bewusstsein. Dies können wir uns nicht genug vor Augen halten. Was wir der Sexualität an Bosheit zuschreiben, wird irgendwo, vornehmlich bei den Schwächsten der menschlichen Gemeinschaft, als Bosheit in Erscheinung treten.

Viele Menschen entsetzen sich über die Pornoszenen, die Jugendliche über das Handy austauschen. Wie können sie sich in ihrer Unerfahrenheit verhalten, wenn die intensive Kraft, die sie in sich spüren, so sehr mit dem Bösen assoziiert wird? Jugendliche bringen das in extremer Form zum Ausdruck, was von der Mehrheit zum großen Teil verdrängt wird. Können wir uns eingestehen, wie sehr uns diese Kraft gleichzeitig fasziniert und Angst macht? Wie von [Sigmund] Freud [1856-1939] erkannt wurde, ist die SEXUALITÄT eine zu starke Kraft, als dass sie sich folgenlos unterdrücken ließe. Die SEXUALITÄT hat den Zivilisationsprozess nicht wirklich mitgemacht. Sie lässt sich kaum einschüchtern. Auf Unterdrückung reagiert sie mit unablässigem Gegendruck. Dies lässt sich besonders deutlich bei der Berichterstattung über jugendlichen Sexualmissbrauch verfolgen.

In der "Basler Zeitung" vom 18. Juli 2007 wurde über einen Missbrauchsfall von Jugendlichen berichtet. Der Leiter der zuständigen Jugendanwaltschaft berichtete dem Radio gegenüber, die beiden älteren Brüder, zirca dreizehn Jahre alt, würden verdächtigt, sich an den sexuellen Übergriffen gegenüber dem siebenjährigen Mädchen beteiligt zu haben. Es stellt sich die schwierige Frage, wie diese ganze Familie geschützt werden kann, damit sie beim heute herrschenden Klima nicht der sozialen Ächtung preisgegeben wird. Welche Hilfe erhält diese Familie, um mit der Belastung fertig zu werden, die durch die Amtsgeheimnisverletzung des Jugendanwalts entstanden ist? Diese Art der Berichterstattung ist prädestiniert, neue Missbrauchsfälle zu provozieren. Viele Jugendliche werden womöglich in ihrer Triebnot durch derartige Medienberichte eher gereizt und angetörnt. Alles, was man in dieser Weise bekämpft, stärkt man, weil man sich energetisch darauf fixiert.

Männliche Sexualität ist ursprünglich auf EROBERUNG und sogar ÜBERWÄLTIGUNG angelegt, auch wenn das nicht mehr in unsere Kultur passt und kaum ausgesprochen werden darf. Dies ist ein wesentlicher Teil von dem, was viele männliche (und weibliche) Jugendliche in und nach der Pubertät spüren und was ihre Fantasie erfüllt. Der Schutz vor Übergriffen kann nur erfolgreich sein, wenn wir uns selbst unsere Ambivalenz eingestehen. Die öffentliche Ächtung dieser Jugendlichen hilft nicht, diese Fantasien zu besänftigen und das Übergriffsrisiko zu vermindern. Es entsteht eine Mischung von SENSATION und ANGST. Gerade das treibt diese instinktive Kraft noch mehr an. Bekanntlich machen Verbote das Verbotene noch attraktiver.

Die sexuelle Not der Jugendlichen wird wenig thematisiert. Man erörtert zu wenig, wie man die Aufklärung verbessern kann. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass man mit der Überwachung von Pornokonsum im Fernsehen, auf Handys und im Internet, eine Verminderung dieser Risiken erreichen kann. Das russische Fernsehen beispielsweise ist und war vor allem sehr viel restriktiver bezüglich sexueller Freizügigkeit. Und die russischen Jugendlichen hatten aus technischen und wirtschaftlichen Gründen weder Handys noch Internet zur Verfügung. Trotzdem berichteten in einer Befragung 25 % der jungen Frauen und 12 % der jugendlichen Männer Mitte der 1990er Jahre über sexuelle Gewalt und Missbrauch (Lunin [Adolescent sexuality in Saint Petersburg] 1995). Auch wenn vermutlich die erwachsenen Täter weit in der Überzahl sind, zeigen die Zahlen, wie wenig man Handys und Internet als Verursacher beschuldigen kann. Sie sind Symptom, nicht Ursache. Eine wesentliche Ursache ist in unserer Einstellung zu finden. Wir sehen den Menschen und seine Körperlichkeit im Allgemeinen und die Sexualität im Speziellen immer noch überwiegend als böse an. Bei uns gilt das Internet in Hinblick auf die Jugendlichen als gefährlich, in islamischen Ländern in Hinblick auf die Frauen, die Mut bekommen könnten, ihre Befreiung zu fordern, was wiederum im Westen positiv bewertet würde.

Eine Filmregisseurin und Kolumnistin hat unlängst eine gänzlich oder nur teilweise fiktive Episode geschildert, in der eine Freundin von ihr mit dem Hausmeister Streit bekam. Es wurden Beschimpfungen und Schläge ausgetauscht. Die Kolumnistin schildert eindrücklich, wie diese Freundin berichtete, die Aggressivität habe den Hausmeister und auch sie selbst immer mehr "scharf" gemacht. Schließlich seien sie im Bett gelandet und dieser kleine Wicht habe eine prachtvolle Überlänge von Penis manifestiert. Der Musiksender Viva hat mehr als einmal eine Hitparade der "Bad Boys" gebracht. Oft kamen von den Frauen, die ein Rating [Bewertung, Einschätzung] zu diesen "Bad Boys", also Film- und Musikstars, abgeben durften, Sätze in dieser oder ähnlicher Art: "Sein Blick sagt dir, "Ich habe dich flach gelegt und ich werde es wieder tun", das macht ihn so sexy." "Seine Augen drücken aus, "Ich mache, was ich will", und das macht ihn unwiderstehlich für fast jede Frau."

Ich glaube, sowohl die Kolumnistin wie auch die sich in Viva äußernden Frauen sagen eine Wahrheit, die wir nicht mehr wahrhaben wollen. Man hat früher vergewaltigte Frauen oft nicht ernst genommen und ihnen unterstellt, sie hätten das selbst gewollt. Dadurch wagen heute Frauen höchstens noch in Psychotherapien zu sagen, dass sie sich durch Vergewaltigungsfantasien erregen. Ebenso wagen Männer höchstens noch in geschütztem Rahmen zu bekennen, dass sie bei Schilderungen von Vergewaltigungen einen sexuellen Kick spüren, den sie nicht wirklich unterdrücken können, auch wenn sie sich deswegen beschuldigen und verachten. Das Ernstnehmen von vergewaltigten Frauen geschieht aber nicht, indem man die andere Seite der instinktiven Kraft einfach verleugnet und Krieg mit ihr führt. Dieser Krieg wird sich nach außen, in die zwischenmenschlichen Beziehungen verlagern. Jugendliche bringen das Verdrängte auf ihre Weise zum Ausdruck und setzen es in ihrer Verwirrung auf eigene Art um. Es macht den Anschein, dass gerade Jugendliche, die in einem Milieu aufwachsen, das traditionell restriktiv ist, bezüglich Übergriffen stärker gefährdet sind.

Viel offenes Gespräch und viel Aufklärung ist notwendig, damit die Jugendlichen lernen, was bei der "EROBERUNG" zulässig ist und wo die Verletzung der Würde und der sexuellen Autonomie der Frau beginnt. In einer Lebensphase, in der sie neben der TRIEBNOT an sich in ihrem Umfeld und vor sich selbst bezüglich sexueller Erfahrung unglaublich unter BEWEIS-DRUCK stehen, können junge Menschen diese teilweise sehr widersprüchlichen Botschaften nicht ohne weiteres in eine Ordnung bringen. Die dazu angebotenen Bilder sind nur Kanal, Symptom und Heilungsversuch. Halten wir im Bewusstsein, wie sehr wir uns im Bund mit dieser Kraft selbst im Zentrum des unglaublichen schöpferischen Prozesses befinden. Wenn wir ihr mit Ablehnung und aggressiver Unterdrückung begegnen, wird sie aggressiv zum Ausdruck kommen.

Von religiöse Seite hört man oft, nur in einer echten Liebesbeziehung sei Sex gut und erlaubt. Sexuelles Erleben ist aber für den Körper an sich schon eine Erfahrung von Liebe. Wir wissen aus der Forschung, wie nicht nur die berühmten Endorphine, also das körpereigene Morphin, sondern ein ganzer Cocktail von so genannten Glückshormonen beim Sex unseren Körper durchflutet. Kann jemand ernsthaft glauben, es sei besonders göttlich, gegen dieses körperliche Glücksgefühl, gegen den Körper zu kämpfen? Wie wir wissen, stärken diese beim Sex ausgeschütteten Hormone nicht nur das Immunsystem, sondern entfalten zahlreiche weitere wohltätige Wirkungen im Körper. Durch Sex werden Blutzirkulation, Lungenfunktion und die Muskeln angeregt. Stress, Erschöpfung und Schlaflosigkeit nehmen ab, unabhängig davon, ob wir mit unserem Partner fest liiert, gar verheiratet oder nur zu-fällig zusammengetroffen sind. Die Sexualität ist die im Körper manifestierte Gottesliebe. Hätte der liebe Gott, so er als Person existierte, das wirklich derart eingerichtet, damit wir all diese positiven Wirkungen unterdrücken und unseren Körper der Krankheit entgegenführen? Ist das nicht eher Krieg gegen sich anstatt Versöhnung mit sich? Kann das jemand als Ausdruck besonderer Spiritualität erkennen? Das sind keine rhetorischen Fragen. Beratungsfälle, in denen schwere, körperliche Erkrankungen mit unterdrückter Sexualität zusammenhängen, sind nicht selten. Wenn es einen Personenhaften allmächtigen Gott geben sollte, würde er wohl am ehesten diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die immer noch einen feindseligen Feldzug gegen seine liebevolle Schöpfung führen

ALBERT war sechzig, als er zusammen mit seiner Frau zur Beratung kam. Seit Jahren litt er an medikamentös kaum einstellbarem Bluthochdruck. Durch die vielen Medikamente war er müde und orientierungslos geworden. Er hatte bereits drei so genannte Streifungen [TIA - Transiente Ischämische Attacke - vorübergehende Durchblutungsstörung eines Hirnareals] hinter sich mit bis zu halbstündigen Lähmungen auf der einen Körperseite. Zusätzlich entwickelte sich eine Hodenentzündung und schließlich ein derart starker Juckreiz in der Genitalgegend, dass er sich wund kratzte. Das Ehepaar hatte nach einer traumatisierenden Abklärung und Behandlung wegen Kinderlosigkeit seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander geschlafen.

Als ALBERT gegen fünfzig ging, hatte er eine intime Beziehung zu einer anderen Frau, die er seiner Ehefrau zuliebe wieder abbrach. Dann hörte er zufällig, dass besagte Frau in der Nähe wieder eine Beziehung aufgenommen hatte. Sein Blutdruck ging trotz medikamentöser Einstellung auf die unglaublichen Werte von 250/130 hoch und ließ sich kaum wirksam korrigieren. Als er sich erlaubte, die andere Frau einmal anzurufen, verschwand der Juckreiz in der Genitalgegend sofort. Was konnten wir ALBERT anderes sagen, als dass er zwar ein treuer Ehemann sei, aber in hoch gefährlicher Art mit seinem Leben spiele. Der Körper fordert seine energetischen Rechte und wird sich nie durch moralische Vorstellungen wirklich davon abhalten lassen. Bei ernsthaften Erkrankungen der Sexualorgane findet man nicht selten eine Unterdrückung der Sexualität; häufig aber auch bei chronischen Darmentzündungen und anderen Störungen im Unterleib. Die sexuelle Not bei Männern ab der Lebensmitte ist eines der großen Tabuthemen unsere Zeit. Wie wir wissen, gibt es bei älteren allein stehenden Männern einen dramatischen Anstieg der Suizidrate nach der Pensionierung und nach dem Tod der Partnerin (Bundesamt für Gesundheit, Suizid und Suizidprävention 2005).

Die hellsichtige amerikanische Psychiaterin Judith ORLOFF [b.1951] hat in ihrem Buch "Die Kraft in mir" [ULLSTEIN 2004], eine spirituelle Annäherung an die Sexualität beschrieben: "Es ist Ihr Recht, leidenschaftlich zu leben. Sie verdienen es, jeden Augenblick zu genießen. Leidenschaft ist Ihr Geburtsrecht, und sie ist jederzeit zu erlangen. Sie wartet darauf, von Ihnen angenommen zu werden, in der Sexualität genauso wie in jedem anderen Bereich Ihres Lebens. Aber wie? Das Geheimnis: Wenn Sie mit dem Herzen das Licht in allen Dingen "sehen", vom Jäten in Ihrem Blumengarten bis zum Liebesakt, dann erblüht die Leidenschaft. Wenn Sie nur mit Ihrem Verstand "sehen", verschwindet dieses Strahlen. Sie haben die Wahl. Ihre Vision von der Welt hängt allein von Ihnen ab" (2004). Dieser Text bringt das Wesentliche einer spirituellen Sexualität zum Ausdruck. Und für Judith ORLOFF sind es nicht bloß schöne Worte. So wie ich sie kennen gelernt habe, lebt sie in dieser Weise und setzt, was sie schreibt, im praktischen Leben um.

Menschen wie MIRIAM sind derart weit von der Liebe zu ihrem Körper und von der Leidenschaft entfernt, dass solche Sätze nicht bis in ihr Gemüt vordringen können. Es geht für sie darum, Wünsche und Bedürfnisse des eigenen Körpers so weit zuzulassen, damit sie diese anders und nicht mehr nur als zu bekämpfende Schwäche wahrzunehmen vermögen. Kann MIRIAM solche ersten Schritte des liebevollen körperlichen Genießens zulassen, kann sie vielleicht später auch Leidenschaft in sich - erneut oder erstmals - entdecken. Ich habe MIRIAM den Hinweis auf den Sex-Blog von Abby Lee gegeben. Sie hatte keine Ahnung davon und noch nie so etwas gehört.

Zoe MARGOLIS [b.1971] alias Abby LEE berichtet, wie der von ihr ins Netz gestellte meistbesuchte Sex-Blog der Welt
[http://girl withaonetrackmind.blogspot.co.at/] ihr geholfen hat, sich selbst besser zu akzeptieren. In "Das Magazin" schreibt sie: "Ich merkte, dass ich mit meinen Freundinnen nicht so über Sex sprechen konnte, wie ich mir das wünschte. Ich habe mich lange gefragt, bin ich eigentlich die Einzige, die in der U-Bahn Typen mit engen Jeans auf den Schritt starrt und die sich bei allen netten Männern, die ich kennen lerne, die Frage stellt: "Wie könnte man den vögeln?""(20/2007:54). Und später im gleichen Artikel sagt sie: "Ich habe durch den Blog erfahren, dass ich nicht das einzige "girl with a one track mind" bin (ein Girl, das nur das eine im Kopf hat). Am Anfang dachte ich, meine Libido sei wohl etwas außergewöhnlich, aber heute weiß ich, dass ich ziemlicher Mainstream bin."

Das INTERNET kann wie kaum etwas anderes in unserer modernen Welt zu weiteren Schritten in Richtung Befreiung der Sexualität und in Richtung Ehrlichkeit mit sich selbst verhelfen. Ich lese jedoch häufig Verurteilungen des Internet. Die Medien bringen vorzugsweise Internet-Missbrauchgeschichten. Manche Psychotherapie kann durch klugen Internetgebrauch erspart oder abgekürzt werden. Abbey LEE beschreibt beispielsweise, wie ihr eine Freundin geholfen hat, orgasmusfähig zu werden, indem sie ihr riet, durch Masturbation mit den Händen und einem Vibrator ihren Körper besser zu erforschen. Gleichzeitig äußert sie ihr Erschrecken über die etwa 25 % Frauen, die offenbar in ihrem Leben keine Orgasmusfähigkeit erreichen können. Oder sie diskutiert mit einem Filmautor die Sorgen der Männer um die Penisgröße.

Wahrscheinlich bleibt noch für einige Zeit das Internet der Ort, wo Menschen mit ihren sexuellen Fragen und Nöten am ehesten Antworten erhalten und verständnisvolle Gesprächspartner finden. Dies kann im Internet in einer Offenheit und Intimität geschehne, die von den Sexratgebern der Boulevardzeitungen [Klatschpresse] meist nicht gewagt wird. Diesbezüglich benötigt das Internet ebenso eine Enttabuisierung, beispielsweise was Alter und Sozialstatus betrifft. Es gibt Frauen in mittlerem Alter mit erwachsenen Kindern und gutbürgerlichem, akademischem Hintergrund, die eher verschämt gestehen, in Sex-Chats [Plauderei, Gespräch, Unterhaltung via Internet] aktiv zu sein.

Beispielsweise eine Fünfzigjährige: "Ich konnte Dinge fragen und Antworten bekommen, wie das mit meinem Ehemann nie möglich gewesen wäre. Ich musste so alt werden, um die männliche Sexualität in intimerer Weise verstehen zu können." Allerdings ist die Zahl der Frauen, die wie MIRIAM finden, das gehöre sich nicht, sehr viel größer. Natürlich gibt es auch Missbrauch im Internet, und diejenigen, die etwas gegen Sex haben, werden in jedem Missbrauchsfall, der bekannt wird, die gesuchte Bestätigung für ihre Meinung finden. Ich ziehe es vor, hauptsächlich auf die positive Seite des Internets zu fokussieren. Viele Menschen getrauen sich auch in der ärztlichen oder psychotherapeutischen Beratung nicht, von sich aus die Themen sexueller Mangel und sexuelle Frustration anzusprechen. Der Zusammenhang mit Energielosigkeit, Depression und verschiedensten körperlichen Erkrankungen bis zu Tumoren ist für mich offensichtlich. Das Internet gibt Hoffnung, die sexuelle Befreiung könnte allmählich doch noch vorankommen. Auch die meist religiös begründete Unterdrückung der Frau und ihrer sexuellen Selbstbestimmung über weite Teile der Welt wird am ehesten durch die Informationstechnologie ein wenig aufgeweicht werden können. In meiner Jugend hatten wir natürlich nicht diese technischen Möglichkeiten. Aber wenn beide Eltern außer Haus waren, ging es ins elterliche Schlafzimmer. In Mutters Nachttischchen gab es ein Doktorbuch mit einer schwarz-weiß gezeichneten nackten Frau. Obwohl sie ohne jede aufreizende Pose dastand, hat sie unsere Fantasie kaum weniger angeregt, als es die heutigen Internetbilder tun.

Wir haben in den 1960er Jahren von der sexuellen Revolution gesprochen. Und diese Generation hat tatsächlich einige befreiende Schritte machen können. Wie wir heute sehen, war es keine Revolution - höchstens eine, die in den Anfängen stecken geblieben ist. Nicht nur die Erfahrungen von Abby LEE und von Menschen in den Beratungsstunden sind Belege für die Schwierigkeit, über sexuelle Erlebnisse, Vorstellungen und Fragen offen reden zu können. Noch dramatischer wird es bei allen Formen der vom Mainstream [Allgemeinheit] abweichenden sexuellen Ausrichtungen.

Mein Analytiker und Lehrer Medard BOSS [1903-1990] hatte schon 1947 ein Büchlein herausgegeben mit dem Titel "Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen" [Kindler 1966]. Er hat anhand diverser Therapiefälle gezeigt, wie die so genannten Perversionen (wie man sie früher bezeichnete) ein Ausdruck von Liebe sind, eine unablässige Suche nach Liebe. Diese Liebe versucht, sich in den Menschen trotz aller Blockierungen doch noch zu manifestieren und zu weiterer Entfaltung zu kommen. Die Libido, diese Lebenskraft, diese Leben erhaltende Kraft lässt nicht locker. Sie versucht immer, sich durchzusetzen, selbst wenn die Menschen noch so leiden. Nirgends bestätigt sich der Satz so deutlich wie hier, dass alles, was man bekämpft, zurückkämpft. BOSS war für die damaligen Verhältnisse revolutionär. Seine Haltung bedeutete eine Befreiung von besonderer Qualität, die meine Einstellung zu sexuellen Deviationen oder Paraphilien, wie das heute genannt wird, grundlegend veränderte.

Damals, Anfang der 1970er Jahre, lief selbst die Homosexualität noch unter dem Titel Perversion. Fast alle Variationen sexuellen Erlebens begegnen der Feindseligkeit und dem Hass hauptsächlich der religiös geprägten Bevölkerung. Die Ergänzung zum Büchlein von Medard BOSS wurde in einem Film von Mischka POPP [b.1941] und Thomas BERGMANN [
b.1943] mit dem Titel "Herzfeuer" 1993 ausgestrahlt. Die ARD [Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland] musste die Ausstrahlung wegen Widerstands verschiedener Institutionen aus dem Hauptprogramm in die Nachtstunden verlegen. Es ist ein ergreifender Film über Variationen von sexueller Liebe. Er zeigt, wie Menschen mit vom Durchschnitt abweichender Sexualpraxis zueinander gefunden haben und mit Sadomaso, Latex, Transsexualität, Transvestismus und anderen sexuellen Ausdrucksformen sich Liebe und Geborgenheit schenken können.

Der Film lässt die seelische Neugeburt von Menschen erkennen, die nach Jahren der Isolation, der Selbstvorwürfe, des Sich-ausgestoßen-Fühlens einen Partner oder eine Gruppe gefunden haben, in der ihre Neigung geteilt und beantwortet wird. Sie erfahren Liebe. Sie können anfangen, sich selbst zu lieben, weil sie nicht mehr allein sind und sich nicht mehr so abnormal empfinden. Dies sollt auch die Hauptbotschaft des Christentums sein. Es sind meistens Mitmenschen, denen wir irgendwann begegnen, die uns ermöglichen, bei uns selbst Versöhnung und Frieden zu finden. Wie sehr müssen jene selbst in ihren Liebesmöglichkeiten blockiert sein, die solche Menschen mit abweichender Sexualpraxis im Namen eines Gottes verurteilen.

Daher, ich wiederhole es, sind die Jugendlichen, die missbrauchen, ein Symptom, das uns die aggressive Einstellung gegenüber der Lebenskraft [Libido] in unserer Kultur spiegelt. Und weil es sich um eine derart starke Kraft handelt, nehmen auch die Bekämpfungsmaßnahmen ungewöhnliche Form und Stärke an. Ein Redakteur eines deutschen Magazins für evangelikales Christentum hat in einem Interview erwähnt, die sexuelle Unkeuschheit sei in der Bibel gleichgestellt mit Geiz und Alkoholsucht. Er frage sich, warum man so intensiv alles Sexuelle verfolge und verdamme, während man an Geiz und Alkoholmissbrauch in den gleichen Gruppen kaum interessiert sei. Einzig was man in sich selbst stark bekämpft, muss man im Außen heftig verfolgen. Auf einer tieferen Ebene sind wir alle in einem gemeinsamen Bewusstsein verbunden.

Pädophilie ist ein besonders heikles Thema. Man wagt kaum, darüber zu schreiben. Es geht nicht darum, die Pädophilie zu bagatellisieren. Ich äußere mich auch nicht dazu, wie man mit den Tätern umgehen soll und wie man die Kinder am besten praktisch schützen kann. Aber wir müssen uns im Klaren sein: Die Libido wird durch das Thema Sexualität immer aktiviert. Sie strebt immer ihrem Ziel entgegen, gemeiner weise ohne Ansehen der Person und der moralischen Gebote. Das jeweils riesige Medieninteresse zeigt, wie sehr das Thema die Menschen anspricht, wie sehr die Libido bei den Menschen aktiviert wird.

Der wohl eindrücklichste Fall hat sich jüngst [2007] in Rignano Flaminio [in der Region Latium mit ihrer Hauptstat Rom], Italien, ereignet. In ganz Europa wurde über den so genannten [Kindergarten-] Pädophilen-Skandal berichtet, bei dem sechs Verdächtige inhaftiert wurden. Kaum eine Zeitschrift oder Fernsehanstalt, die nicht Journalisten vor Ort schickten. Nicht nur von Pädophilie war die Rede, auch andere zugkräftige Reizwörter wie Satanismus, Vergewaltigung und Internet wurden erwähnt. Das Thema Kindsmissbrauch regt nun einmal die Fantasie und gleichzeitig deren Abwehr bis zu Hass und Ekel ungemein an. Im Ort selbst spaltete sich die Bevölkerung in die Schuldüberzeugten und die Unschuldsvermuter, welche sich mit Demonstrationen und Gegendemonstrationen Gehör zu verschaffen versuchten. Als überraschend fünf der sechs Verhafteten freigelassen wurden, war das den internationalen Medien kaum mehr einen Bericht wert; bestenfalls eine kleine Randnotiz, denn in dieser Information steckte keinerlei "Kick" mehr. Wenn wir uns diese Zusammenhänge in Bezug auf uns selbst eingestehen könnten, würde schon Heilung und Entspannung beginnen. Unser Umgang mit diesem Thema ist so, wie wenn wir auf dem Desktop ein uns nicht passendes Symbol löschten, die Software aber unsichtbar weiterhin vorhanden und aktiv ist. Wir täuschen uns über uns selbst.

In den USA ist man dazu übergegangen, die Adresse von Kinderschändern zu veröffentlichen. In Maine wurden daraufhin zwei Männer von der Bevölkerung umgebracht. Einer davon war ein 19jähriger Junge, der mit seiner 15jährigen Freundin intimen Verkehr hatte und das mit dem Leben bezahlen musste. Die Journalistin eines schweizerischen Regionalblatts hat mit Rückendeckung des Chefredakteurs in einem Beitrag zur Pädophilie gefordert, man müsste den Tätern den Penis abschneiden, sie ausgiebig foltern und schließlich töten. Warum brauchen wir diese öffentliche Verdammung, die jederzeit in Volksjustiz wie in den USA entarten könnte?

Man kann nur hoffen, dass die Medien trotz des prickelnden Potentials, das in öffentlichen Verurteilungen steckt, dieser Versuchung stärker widerstehen. Wir haben eine effiziente Polizei mit guten Aufklärungsmethoden und ebenso gute Gesetze und gute Gerichte. Der allgemeine Druck und die Stigmatisierungen gegenüber der Pädophilie werden weiter zunehmen und dadurch die Fälle von Kontrollverlust mit schrecklichen Folgen vermutlich auch. Je mehr Panik und Verurteilung in der Öffentlichkeit zunehmen, desto mehr werden die Täter bei Übergriffen in Panik geraten und das Leid vergrößern. Überlassen wir die Verurteilung beziehungsweise die Anwendung der Gesetze den Richtern. Bleiben wir uns bewusst, dass auch diese Täter am gemeinsamen Bewusstsein teilhaben.

In der Schweiz wurde die so genannte Verwahrungsinitiative von der Bevölkerung angenommen, nach der gewisse Sexualstraftäter lebenslang ohne neue Prüfung ihrer Gefährlichkeit verwahrt werden können. Nach der Annahme verlangten gewisse Politiker weitere Schritte, da die Zahl der gemeldeten Fälle ständig zunehme (was aber statistisch anscheinend nicht bestätigt wird). Offenbar hätte die Verwahrung nicht genügend abschreckende Wirkung, wurde argumentiert. Bei meinen Ausführungen geht es genau um diese Frage. Aus spiritueller Sicht, wonach das Bewusstsein der Menschen auf einer tieferen Ebene eins ist, kann durch Verwahrung keine wirksame Abschreckung erreicht werden. Der Sinn der Verwahrung liegt in der höheren Sicherheit für die Bevölkerung. Die Abschreckung der Täter ist eine Illusion, weil die Sexualität sich wehrt und früher oder später mindestens kurzzeitig die Kontrolle bei entsprechenden Menschen übernimmt. Die Kraft, die wir hier bekämpfen, hat die Verantwortung dafür, dass das Leben auf der Erde weitergeht. Sie wird sich mit allen Mitteln wehren und eben in ihrem Vorwärtstrieb weder nach Aussehen der Person noch entlang irgendwelcher moralischer oder juristischer Leitgedanken wirken. Dies ist Aufgabe der anderen Instanzen in unserer Person. Diese werden aber überlistet, sobald die Lebenskraft [Libido] zu sehr unterdrückt wird. Ihr wichtigstes Ziel ist die Fortpflanzung durch sexuelle Vereinigung.

Ich frage mich, ob Jesus das gemeinsame Bewusstsein von Opfern, Tätern und Gerechten im Auge hatte, als er riet, niemanden zu richten und seine Feinde zu lieben. Vielleicht hat er wirklich das letztlich Nutzlose des üblichen Tuns durchschaut. Es sei nochmals betont, damit sind überhaupt nicht der bestmögliche Schutz der Bevölkerung und die Anwendung der staatlichen Gesetze in Frage gestellt. Verdrängte Kräfte kommen fast immer bei den Schwächsten zum Durchbruch. Eben bei Jugendlichen oder Personen mit einer unsicheren Kontrolle. Eigentlich wissen wir das seit [Sigmund] Freud. Es ist kein Zufall, dass amerikanische Politiker, die sich besonders im Kampf gegen Homosexualität und Pädophilie profilierten, schließlich als heimlich Praktizierende des von ihnen Bekämpften enttarnt wurden. Ebenso wenig sind die pädophilen Übergriffe in der Priesterschaft Zufall.

Es gab nur wenige Bücher, die so viel aufsehen erregt haben, wie "Lolita" [1955] von Vladimir NABOKOV [1899-1977]. Die Kritiker waren entsetzt über die sehr freizügige Darstellung sexueller Szenen mit einer [12jährigen, pubertierenden] Minderjährigen [Hebe-philie] in einer Zeit [1955], als auch unter Erwachsenen kaum in dieser freizügigen Art über Sex gesprochen wurde. Der Roman hat es trotzdem oder gerade deshalb geschafft, eines der bekanntesten Werke der Literatur zu werden. Als NABOKOV das Unaussprechliche zur Sprache brachte, fing man an, über das Thema zu reden. Doch das offene Reden wurde nicht zu Ende geführt. Wir haben die Selbstreflexion weiterhin der Verleugnung und dem Versuch der Repression [Unterdrückung, Hemmung] geopfert.

Wollte man alle Themen unterdrückter und verdrängter Sexualität ansprechen, würde die Liste sehr lang. Was noch wenig diskutiert wird, sind die Veränderungen der Sexualität durch den Gebrauch von Kondomen mit dem entsprechenden Lustverlust. Ein Thema, das von Anti-Aids Organisationen fast gänzlich totgeschwiegen wird. Nur Ehrlichkeit könnte unterstützend sein, und Ehrlichkeit würde zu einer nicht verurteilenden, spirituellen Einstellung gehören.

Das Thema Frau mit jüngeren Partner ist kaum andiskutiert, obwohl finanziell unabhängige, prominente Frauen die ersten Schritte gewagt haben. Frau mit jungem, finanziell unterstütztem Freund beispielsweise in Afrika ist, obwohl es nicht so selten vorkommt, fast gänzlich der Verschwiegenheit anheim gegeben. Untersuchungen legen uns nahe, dass ein Drittel bis zur Hälfte der reifern Frauen an sexuellem Mangel leiden.

Das Thema ältere Männer mit jungen Frauen wird zwar diskutiert, allerdings nicht von den Betroffenen selbst. Meist geschieht es abwertend, spöttisch oder verurteilend. Anders wäre es kaum zu erklären, dass die junge Freundin eines in der Gesellschaft bekannten Mannes immer wieder als früheres Erotikmodel bezeichnet wird. Es steckt auch da der Kick drin. Es gab sogar Kommentare wie: "Wie kann sich ein Mann nur so lächerlich machen?" Immerhin stand in der "Weltwoche" auch: "Die gute Gesellschaft ist irritiert. Jeder ehrliche Mann versteht ihn." Auch da mischen sich Abwehr, vordergründige Verachtung mit hintergründiger Faszination und Neid. Es hat vermutlich auch mit der generellen Abwertung des Materiellen zu tun, wenn Geld als erotisches Stimulans und Liebeselixier abgewertet wird. Aber Geld und Status ist bei Männern nun mal sexy, und vielleicht auch bei Frauen.

Noch übler wird das Geld als Vermittler der sexuellen Erfüllung bei der Prostitution verurteilt. Die Ächtung der Freier ist noch viel stärker als die der anbietenden Frauen. Es ist ein deutlicher Fortschritt, dass einige betroffene Frauen überhaupt einen "Welthurentag" [Internationaler Hurentag - International Sex Worker's Day,
seit 2. Juni 1975] ins Leben
gerufen haben, auch wenn er kaum bekannt ist. Die soziale Sicherung der Sexarbeiterinnen ist ein dringendes Anliegen. Nur wird kaum thematisiert, wie sehr die Not dieser Frauen und der Frauenhandel in der gesellschaftlichen und moralischen Ächtung der bezahlten Sexualität ihre Ursache haben. Solange die Sexualität versklavt bleibt, wird es auch Sexsklavinnen geben. Und die Männer? Man könnte sehr viel für die Gesundheit der Männer weltweit tun durch die Aufhebung von Ächtung und Verurteilung der Freier. Dass Betroffene selbst derartiges vorschlagen, wie das die Prostituierten getan haben, ist nicht zu erwarten. Der soziale Tod derjenigen, die sich outen würden, wäre vorbestimmt. Es wird kaum gelingen, die Prostitution aus dem Dunstkreis von Ausbeutung und Gewalt zu befreien, solange nicht Ächtung der Freier überwunden ist. Ich hoffe noch zu erleben, dass die WHO einen "Weltfreiertag" proklamiert und damit für mehr Wohlergehen ebenso vieler Frauen wie Männer sorgt. Viele Fortschritte in Bezug auf Gesundheit und Freiheit haben als Utopien begonnen.

Eigentlich dürfen wir uns freuen über die Stärke der Lebenskraft, die sich auf keine Weise definitiv verdrängen und unterdrücken lässt. Unser Überleben hängt davon ab. Gibt es heute noch irgendeinen Grund, welcher der Vernunft standhält, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie ihre Sexualität zu leben haben, solange sie niemanden schaden? Warum soll nicht jedem Menschen die Freiheit zugestanden werden, seinen eigenen Weg der sexuellen Erfüllung zu finden und die darin enthaltenen spirituellen Möglichkeiten im glücklichen Fall zu entdecken? In der "Basler Zeitung" vom 1. Oktober 2007 äußerte eine PROSTITUIERTE mit dem Namen KATARINA, sie möge den Beruf, weil es der ehrlichste sei und man es zu 99 % mit netten Menschen zu tun hätte. Und wenn die Menschen immer so miteinander umgehen würden, hätte man das Paradies auf Erden. Mögen doch die Menschen, die so sehr das christliche Liebesgebot verkünden, sich diese Zeilen zu Herzen nehmen. Richard DAWKINS [b.1941] hat in seinem hypothetischen Entwurf von neuen Zehn Geboten eines davon so formuliert: "Erfreue dich an deinem eigenen Sexualleben (solange es keinem anderen Schaden zufügt) und lass andere sich des ihren ebenfalls erfreuen, ganz gleich, welche Neigungen sie haben - die geh-en dich nichts an" (Dawkins: ["Der Gotteswahn" Ullstein] 2007:376). Ich habe mich oft gefragt, was geschehen würde, wenn deutliche Beweise dafür gefunden würden, dass Jesus verheiratet war und Kinder hatte, wie das Dan BROWN [b.1964] im Roman "Der Da Vinci Code " [2003] beschreibt. Oder man fände heraus, dass er nicht zu den Prostituierten ging, "um ihnen ihre Würde zurückzugeben, indem er mit ihnen aß", sondern indem er auch ihre Dienste in Anspruch nahm. Wenn er wirklich ein Mensch war und überragende Weisheit und Durchblick besaß, kann er kaum die Lebenskraft verkannt und unterdrückt haben.

Martin SCORSESES [b.1942] Film "Die letzte Versuchung Christi" [1988]
[Nikos Kazantzakis (1833-1957) Roman: "Die letzte Versuchung Christi" 1951] rief international wütende Proteste hervor, obwohl der Regisseur die Versuchung Jesus` nur als Fantasie in den letzten Momenten vor dem Kreuzestod dargestellt hatte. Sogar ein Brandanschlag auf ein französisches Kino wurde verübt. Eine entsprechende Kritik behauptet, der Film "verfehle den zentralen Aspekt des christlichen Glaubens, die erlösende Anteilnahme Gottes am existentiellen Sein der Menschen" (Wikipedia). Es ist mir unverständlich, wie man vom existentiellen Sein des Menschen sprechen kann und gleichzeitig die entsprechende Person als asexuelles Wesen darstellt. Unlängst hatten wir die internationalen Dispute wegen der [12-] Mohammed-Karikaturen [in in der dänischen Tageszeitung Morgenavisen Jyllands-Posten, am 30.9.2005 veröffentlicht] und es wurde von den Muslimen Toleranz ähnlich wie in unserer westlichen Gesellschaft gefordert. Ist diese Toleranz bei uns wirklich größer? Kann ein Karikaturist es sich leisten, Jesus mit einer Geliebten oder gar Prostituierten im Arm zu zeichnen? Gäbe es wieder Brandanschläge wie auf das französische Kino? Die katholische Volkspartei, eine politische Splittergruppe, fordert ja eine Verschärfung der Rassismusstrafnorm, um den Papst, Maria und die Heiligen vor Spott zu schützen. Ohne Freiheit gibt es keine Liebe, nicht nur was die Sexualität angeht. Die Sexualität braucht die Liebe nicht unbedingt; jedenfalls nicht in jedem Lebensalter. Woher kommt die Forderung, die Sexualität müsse sich immer mit der Liebe vergesellschaften? Ich könnte nie glauben, diese Forderung sei besonders gottgefällig. Aber in Freiheit ist die Chance am größten, dass sich Sexualität und Liebe zusammentun und gemeinsam wachsen. Hingegen würde ich die Behauptung vorbehaltlos unterstützen, die Liebe müsse immer mit der Freiheit vergesellschaftet sein, um ihre Kraft wirken lassen zu können. Ich kann mich deutlich an das Gefühl der Befreiung, der Freude, der Leichtigkeit und der inneren Kraft erinnern, als ich zwischen siebzehn und zwanzig Jahren den Zusammenhang zwischen Freiheit und Liebe erkannte. Alle Liebe, die nicht aus der Freiheit entsteht, hat bereits ihre göttliche Qualität verloren. Sie hat keine wirkliche Kraft. Sie ist nur ein Abklatsch von Liebe. Die Qualität jeder Entscheidung und jedes Gefühls ist von dieser Liebe und dieser Freiheit abhängig. Allem, was in dieser Hinsicht aus Angst vor Strafe, aus Schuldgefühlen, aufgrund moralischer Gebote oder Ähnlichem entsteht oder provoziert wird, fehlt die göttliche Qualität. Der Grund für die Liebe und für Liebestaten mit heilender Qualität ist die Liebe selbst. Kein Gebot, keine Strafandrohung kann etwas zum Glanz der Liebe hinzufügen; sie können immer nur wegnehmen, beschränken, begrenzen, erniedrigen. Jesus von Nazareth wird zitiert, wie er die Liebe anpreist und empfiehlt. Ich kann das als Empfehlung und Ratschlag begreifen, nie als Gebot oder Vorschrift. Ich traue ihm zu, dass er wusste, dass alle befohlene Liebe keine Liebe mehr ist. Ein Versuch zur Liebe aus Angst vor Strafe taugt nichts. Sie wäre nicht mehr kraftvoll genug, die ganze Schöpfung voranzubringen. Ich behaupte, die Welt würde keinen Deut besser, wenn jemand aus Angst vor Strafe sein Vermögen den Bedürftigen schenken würde. Hier begegnen wir einem seltsamen Paradox. Die göttlich freie Liebe jedes Geschaffenen kann vermutlich nur in der Gottferne erkannt werden. Wir haben uns wohl vom Göttlichen scheinbar abgetrennt, weil wir die höchste Form der Göttlichkeit als eigenständiges Bewusstsein, als Individuum erkennen und erleben wollten.

Möglicherweise haben Atheisten ["Menschen ohne postulierten Gott"] die bessere Chance, die wahre Qualität der Liebe zu erkennen. Sie sind nicht in Gefahr, aus Angst vor einer ewigen Verdammnis und Ähnlichem sich zu einen Abklatsch von Liebe zu bekennen. Sie haben die Chance, den unauslotbaren, göttlichen Glanz der Liebe um der Liebe selbst willen zu begreifen. In den intensiven Jugendjahren der Auseinandersetzung war dies meine entscheidende Erkenntnis: Der bedingungslosen Liebe höchste Würde und höchste Kraft, eine freie, göttliche Spiritualität kann nur von Atheisten oder von Heiligen erkannt werden, die jede Form von Dogmatismus durchschauen und jede Angst vor Strafe verloren haben.

Welch ein Glück für einen Maturanden Anfang der 1950er Jahre, ein Buch wie "Die Pest" [1947] von Albert CAMUS [1913-1960, 1957 Literatur Nobelpreis] zu finden und lesen zu können. Was auch immer die Rezensenten und Interpreten schrieben, mein Verständnis dieses Werkes war klar und gab mir Kraft und Hoffnung: Der Arzt und Atheist [Dr. Bernard] Rieux hat in seinem Herzen die Liebe gefunden. Kein Gebot, keine Angst vor Strafe, einfach seine Erfahrung aus Herz und Verstand hat in der von ihm als absurd empfundenen Lebenssituation die Liebe aufbrechen lassen. Deshalb war und blieb er gesund. [Jesuiten-] Pater Paneloux lebte in der Angst vor der Strafe Gottes und unter dem Befehl zur Liebe. Darum war er verpestet und starb auch an der Pest. Die Pest unserer Welt, so verstand ich die Hauptaussage und verstehe sie immer noch, ist die Angst vor Strafe, die jede Liebe entkräftet und sie ihres göttlichen Glanzes beraubt. So gelangte ich zur paradoxen Einsicht, wonach die zeitgemäße Spiritualität eher bei Atheisten gefunden werden könnte. Die Religionen, die einen strafenden Gott postulieren, haben die Chance vertan, diese göttliche Liebe aufscheinen zu lassen. In einer solchen Straf-Verpackung ist sie von Grund auf verpestet. Ich staune über die Genialität und Spiritualität von CAMUS, der für diese Ausprägungen das Bild der Pest gefunden hat. Im Unterschied zu den Figuren im Roman von CAMUS erkennen wir in unserem Leben die Verpestung oft nicht mehr, und wir realisieren nicht, welche Todesprozesse dadurch schon stattgefunden haben. In meinem Verständnis hat Jesus mit seinen Worten, man solle die Toten ihre Toten begraben lassen, deutlich darauf hingewiesen. Verstorbene können nicht gemeint sein, also muss er Menschen gemeint haben, die geistig-seelisch tot sind.

Ein weltweiter spiritueller Aufbruch ist ohne das Erkennen der Göttlichkeit unserer Sexualität kaum denkbar. Der häufige Zusammenhang von unterdrückter Sexualität und Unterdrückung der Frauen ist bekannt. Die befreite, dem Leben verpflichtete Sichtweise wird heißen, alle Verunglimpfungen [Herabwürdigungen durch eine Äußerung, Darstellung oder Handlung] und negativen Zuschreibungen fallen zu lassen. Es wird volle persönliche Respektierung und Freiheit bedeuten für alle Frauen und Männer, für Homosexuelle und viele andere Gruppierungen, deren sexuelle Ausrichtung nicht dem Mainstream entspricht. Die befreite Sexualität wird in besonderem Maße Ausdruck sein für die volle Würde und den vollen Respekt, den Menschen verschiedenster sexueller Ausrichtung genießen, frei von religiös bedingter Unterdrückung und religiös motiviertem Hass.

Die Befreiung der Sexualität kann auf vielen Kanälen fortschreiten. Oft wird eine Sexualisierung des öffentlichen Lebens in den Medien beklagt. Diese so genannte Sexualisierung ist bereits Ausdruck eines Mangels, einer mangelnden Integration der Sexualität im Leben sehr vieler, wahrscheinlich der Mehrheit der Menschen. Die modernen Medien spielen eine wichtige und oft durchaus positive Rolle, von der Boulevardpresse [Klatschpresse] über die People-Magazine bis zum Fernsehen. Auch die Werbung hat eine wohltuende und befreiende Wirkung, indem sie die Wichtigkeit und Ansprechbarkeit auf Erotik, Sexualität und Schönheit erkennt und stärkt. Die Werbung ist auf ästhetisch ansprechende Bilder angewiesen. So vermittelt sie eine aufeinander abgestimmte Kombination erotischer und ästhetischer Impulse. Der Sinn für Schönheit wird gestärkt. Leider erlauben sich manche Menschen nicht, solche alltägliche erotische und ästhetische Werbung zu genießen, auch wenn eine entsprechende Stimulation ihrer seelischen Befindlichkeit und körperlichen Gesundheit nur gut täte.

Alice SCHWARZER [b.1942] findet, junge Frauen machten sich lächerlich, wenn sie sich entsprechend der heutigen Mode attraktiv kleiden (NZZ [Neue Zürcher Zeitung ], 21.10.07). Man könnte ja nur für kurze Zeit den "sexy Schmollmund ziehen". Steckt da nicht gerade die Verachtung der Frauen drin, die Alice SCHWARZER im gleichen Interview anprangert? Auch der "sexy Schmollmund" ist nicht lächerlich und braucht keine Verachtung. Jeder Mensch entscheidet selbst, warum seine Würde verletzt wird. Da sollte Alice SCHWARZER genauso zurückstehen mit Urteilen über andere, wie wir dies von den Religionen erhoffen. Diese Erfahrung kann ohne Respekt und Freiheit nicht gewonnen werden. Die sexuelle Kraft als schöpferische Energie voll zu respektieren und zu leben, würde einen machtvollen Schritt zu einer allgemein wieder erwachten Spiritualität bedeuten und hätte sehr viel mit der Befreiung der Frauen zu tun. Und eine solche Haltung würde viel zur Eindämmung von Missbrauch beitragen.

Ich schließe dieses Kapitel mit ein paar Zeilen von Judith ORLOFF:
"Sie gewinnen an innerer Kraft, wenn sie Sexualität so verstehen, dass sie eine intuitive Lebensweise fördert und Ihr ganzes Wesen mit Leben erfüllt. Sie ist ein Mittel, um energetische Offenheit in Ihrem Inneren, im Umgang mit anderen und mit Gott zu erreichen. Liebe schafft in uns ein Gefühl von Fülle und Verbundenheit. Aus Erfahrung weiß ich, dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen. Dennoch habe ich festgestellt, dass der Weg zur Erweckung der Sexualität nicht immer gerade verläuft. Als Frau musste ich mich erst mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich viele Facetten meines Wesens gefahrlos zum Ausdruck bringen konnte. Das braucht Zeit. Intuition, Sexualität und Spiritualität, nach und nach begannen sie sich zu einem wunderbaren Gewebe zu verflechten" (Orloff ["Die Kraft in mir" Ullstein] 2004:333




PD Dr. med. Jakob Bösch war Chefarzt der Externen Psychiatrischen Dienste Baselland und Privatdozent für Psychiatrie und Psychosoziale
Medizin an der Universität Basel bis Ende Januar 2006.
Er erhielt nach dem Medizinstudium ein Postdoc-Stipendium für Experimentelle Medizin und
arbeitete am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich. Wechselte an die PUK [Psychiatrische Universitätsklinik] Zürich und arbeitete später
10 Jahre an der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich, zuletzt als leitender Arzt und Privatdozent.
In dieser Zeit gründete er
die ersten Gesundheits-Selbsthilfegruppen in der Schweiz und baute in zwei Zürcher Quartieren die ersten Organisationen für Nachbarschaftshilfe
auf. Er beschäftigt sich seit langem mit Hellsichtigkeit ["Fähigkeit zur nicht-sinnlichen Wahrnehmung"] und sammelte Erfahrungen mit Geistigem
Heilen, wobei die Themen Selbstheilung und Versöhnung immer mehr in den Vordergrund rückten. Seit 2004 arbeitet er mit dem hellsichtigen
Medium Anouk Claes (Theologie u. Psychologie Studium UNI Basel) zusammen. Er schrieb vier Bücher und ist Preisträger der Schweizerischen
Gesellschaft für Psychiatrie, der Schweizerischen Vereinigung für Parapsychologie und des Schweizerischen Verbandes für Natürliches Heilen.


Text-
Quelle: Jakob Bösch: „Versöhnen und Heilen: Spiritualität, Wissenschaft und Wirtschaft im Einklang“ Kapitel: Freiheit - Urgrund aller Liebe.
Seite 88 - 111. AT VERLAG 2008 ISBN: 978-3-03800-386-1


Portrait: www.schule-der-geistheilung.de/

[Meine Ergänzungen]