Der alte Mann und sein
Pferd
Die folgende Geschichte trug
sich angeblich im alten China zu,
zur Zeit von Laotse (6. Jahrhundert v.u.Z.)
[Welle:
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"In einem chinesischen
Dorfe lebte ein alter Mann, der ein wunderschönes weißes Pferd besaß.
Darum beneideten ihn selbst die Fürsten. Der Greis lebte in ärmlichen
Verhältnissen,
doch sein Pferd verkaufte er nicht, weil er es als Freund betrachtete.
Als das Pferd eines Morgens verschwunden war, erzählte man sich im ganzen Dorf:
"Schon immer haben wir gewusst, dass dieses Pferd eines Tages gestohlen
würde.
Welch ein Unglück für diesen alten Mann!"
"Soweit dürft ihr nicht gehen"
erwiderte der
alte Mann.
"Richtig ist, dass das Pferd nicht mehr in seinem Stall
ist, alles andere ist Urteil.
Niemand weiß, ob dies ein Unglück ist oder ein Segen"
Nach zwei Wochen kehrte der
Schimmel, der nur in die Wildnis ausgebrochen war,
mit einer Schar wilder Pferde zurück.
"Du hast recht gehabt, alter Mann", sprach das ganze Dorf,
"es war ein Segen, kein Unglück!"
Darauf erwiderte der Greis:
"Ihr geht wieder zu weit.
Tatsache ist nur, dass das Pferd zurückgekehrt ist."
Der alte Mann hatte einen
Sohn, der nun mit diesen Pferden zu arbeiten begann.
Doch bereits nach einigen Tagen stürzte er von einem Pferd und brach sich beide
Beine.
Im Dorf sprach man nun:
"Alter Mann, du hattest recht, es war ein Unglück, denn dein einziger Sohn,
der
dich im Alter versorgen könnte, kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen."
Darauf antwortete der Mann:
"Ihr geht wieder zu weit. Sagt doch einfach,
dass sich mein Sohn die Beine gebrochen hat.
Wer kann denn wissen, ob dies ein Unheil ist oder ein Segen?"
Bald darauf brach ein Krieg
im Lande aus. Alle jungen Männer wurden in die Armee eingezogen.
Einzig der Sohn des alten Mannes blieb daheim, weil er ein Krüppel war.
Die Bewohner des Dorfes meinten:
"Der Unfall war ein Segen, du hattest recht."
Darauf entgegnete der alte
Mann:
"Warum seid ihr vom Urteilen so besessen?
Richtig ist nur, dass eure Söhne ins Heer eingezogen wurden,
mein Sohn jedoch nicht.
Ob dies ein Segen
oder ein Unglück ist, wer weiß?"
"Leiden
liegt darin begründet,
dass Menschen Dinge tun,
die sie nicht begreifen,
deren Bedeutung sie sich
aber
haben einreden lassen.
Was heißt das?
Wir meinen, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen,
das wir rational verteidigen und uns zu eigen gemacht haben.
Man hat es uns aber eingeredet, und mit dem "man" meine ich
eine
ganze Bandbreite von Autoritäten, durchaus auch die internalisierten.
Wir verstehen oft die Zusammenhänge nicht, urteilen aber
vorschnell.
Anders der Chinese aus der Geschichte, die ich oben erzählt habe,
der solche vorschnellen Urteile, solches vermeintliche Wissen, abwehrt.
Leiden, das wir einander zufügen aufgrund
unseres Machtwillens,
hängt mit einer unreifen und unzureichenden Wahrnehmung zusammen.
Es ist insofern eine Folge des Leidens, das wir unter der ersten Kategorie
als dem naturhaften Leiden [durch Naturkatastrophen] besprochen haben,
da Menschen, die diese Art von Leidzufügung oder von Unreife verkörpern -
nicht immer, aber oft -, diejenigen sind, die mit dem Schmerz, den sie selbst
erleben,
nicht umgehen können und ihn deshalb nach außen projizieren und auf diese Weise
ausleben, entweder in destruktiver Aggression gegen sich selbst oder in
Aggression
gegen Andere. Ein Beispiel für Autoaggression wären Essstörungen
und das Drogen-
problem, ein Beispiel für Aggression gegen andere sind Kriege -
von Ehekriegen,
Beziehungskriegen bis zu politischen Kriegen zwischen Völkern.
Diese Gestalt des Leidens hat zu tun mit einem Mangel an Gemeinschaftsfähigkeit,
der wiederum eine Wurzel in der Unfähigkeit hat, sich selbst zu akzeptieren und
zu bejahen ...
Wenn wir nur bereit sind, die
Gegenwart nicht einfach als Summe des Vergangenen zu begreifen
und die Zukunft vielleicht als eine Hochrechnung der addierten Vergangenheit und
Gegenwart zu erwarten,
sondern wenn wir bereit sind, zu akzeptieren und dafür offen zu sein,
dass es auch Neues geben kann,
dass die Zukunft nicht einfach die Summe des Vergangenen ist, sondern dass
jeder zukünftige Tag
eine noch unbekannte Schöpfungskraft in sich birgt und neu geformt
werden kann.
In der Kraft des Anfangs werden Verstrickungen auflösbar." ...
"Sünde ist nach biblischer Auffassung nicht die Summe von einzelnen
Fehlhandlungen,
die moralisch abgewogen werden könnten, sie ist die prinzipielle Trennung von
Gott,
die durch den Menschen selbst verursacht und Folge missbrauchter Freiheit ist.
Damit wird jeder Moralismus, aber auch jeder Fatalismus abgelehnt.
Sünde ist die egozentrische Selbstverschlossenheit bzw. das menschliche
Herz,
das in sich selbst verkrümmt ist (cor incurvatum in se).
Das Böse hat nach Augustinus von Hippo (354-430) keine Eigenexistenz,
denn alles was ist, ist gut. Daher ist das Böse widernatürlich (contra naturam)
und nur ein Mangel am Guten (privatio boni).
Gott will weder das Böse noch die Sünde, doch er nimmt die Möglichkeit zu beidem
bei der Schöpfung in Kauf, um menschliche Freiheit zu ermöglichen,
was die Unausweichlichkeit des Leidens einschließt.
Nach Augustinus lässt Gott das Böse zwar zu (z.B. als Strafe oder - beim
Leiden Unschuldiger -
zur Bewährung und Erlangung von Geduld), aber seine Wirkkraft steht auch unter
der
umgreifenden Macht der Gnade, d.h., das Böse gäbe es nicht, wenn Gott daraus
nicht letztendlich noch Gutes machen würde (de malis bene facere).
Unter dem bösen Handeln des Menschen verbirgt sich die gute Tat Gottes
(in malis operibus nostris Dei opera bona sunt).
Bei den einzelnen Vorstellungen vom Bösen und vom Leiden, die sich in der Bibel
und der frühchristlichen Theologie finden, sind verschiedene mythische Elemente
vorchristlicher Religionen (Babylonien, Ägypten) mit der griechischen
Philosophie
(Platonismus)
und den spezifischen alten hebräischen Theologien
und Anthropologien
zusammengeflossen."...
Aus:
„Wie können wir leben?
Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß“
Seite 24/25, Seite 32-34, Seite 53-54 C.H.BECK 2009 (2002)
Michael von Brück
(b.1949)
Prof. f. Religionswissenschaften, Zen-Lehrer, München)
Siehe ZITATE:
Laotse / Es gibt einen Geist, der bestand >>>