Das Wesen der Heilkunst
Günther Loewit: „Der
ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“ Kapitel: Heilkunst
und Wissenschaft.
Unterkapitel: Der Arzt und sein Patient. Das Wesen Heilkunst. Seite 200 - 205.
HAYMON [Ergänzungen]
www.dachverband-salutogenese.de/
"Die Arzt-Patient-Beziehung ist so alt wie
die Menschheit selbst. Menschen haben immer Hilfe gesucht,
ob bei Weisen, Priestern, Gelehrten, Ältesten oder eben Ärzten. Es ist eine
Beziehung mit unzähligen
Ebenen und Facetten, die keinesfalls alle erfass- oder beschreibbar sind.
Vertrauen und Hilfesuchen, Sympathie und Geschäft, Glauben und Aberglauben,
Hingabe, Zuhören,
Verschwiegenheit, Wissen und Können, Kunst und dutzende weitere Aspekte
kennzeichnen das,
was so simpel "Arzt-Patient-Beziehung"
genannt wird.
Die Bezeichnung "Götter
in Weiß" wäre nicht entstanden, wenn die
Arzt-Patient-Beziehung nicht auch
religiöse Aspekte in sich vereinigen würde. Und
auch wenn dieser Begriff heute negativ besetzt ist,
so sprechen immer noch viele Patienten vom "Wunder der
Heilung", "wie durch ein Wunder"
heißt es oft und "mir geht es wunderbar".
Das Wunder
als Synonym für das
Unbegreifliche bleibt auch in der Hightech-Medizin präsent.
Und das, auch wenn die "Be-handlung", ein
wichtiges Element dieser Beziehung zwischen Arzt und Patient,
also die Berührung mit der ärztlichen Hand,
in der modernen Medizin immer seltener wird. Und wenn, dann
immer öfter mit Gummihandschuhen, denn der moderne Arzt wird von
Hygienequalitätsbeauftragten angewiesen,
sich vor seinen Patienten zu schützen. Eine Maßnahme, die in ihrer
philosophischen Tragweite erschrecken muss.
Denn vermutlich haben warme, weiche ärztliche Hände
mehr zur Beruhigung und damit zum Überleben
von Unfallopfern beigetragen als so manches Beruhigungsmittel.
Bei allem gesetzlichen Druck, allen
Reglementierungen, die die Politik auf Ärzte ausübt, wird gerne vergessen,
welchen hohen Anforderungen dieser Beruf gerade in
seiner Beziehung zum Patienten unterliegt. Dazu
gehören nicht nur standesrechtliche Richtlinien, der "Eid des Hippokrates" oder
die "Genfer Deklaration
des Weltärztebundes", dazu gehört auch die menschliche Verantwortung gegenüber
dem Patienten.
Denn eine gute Arzt-Patient-Beziehung besitzt
wesentlichen Einfluss auf den zu erwartenden
Krankheitsverlauf. Ohne Genesungswillen des Patienten, ohne Verständnis für die
ärztlichen
Anordnungen, ohne ausreichende Erklärungen des Arztes, ohne gegenseitiges
Verständnis
wird der komplexe Vorgang der [Selbst-] Heilung nicht funktionieren.
Oder wie Michael Balint [1896-1970,
britisch-ungarischer Psychoanalytiker] schon 1964 schreibt:
"Das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel ist der Arzt
selber. Leider gibt es für
dieses wichtige Medikament bisher keine Pharmakologie und keine Toxikologie."
Die Placebowirkung von Medikamenten müsste also die unergründliche Wirkung der
"Droge Arzt" (Balint)
hinzugefügt werden - ein Begriff, der nicht nur als Begriff, sondern vor allem
in seiner Wirkung existiert.
Siehe INFOS: Statistik Glossar & Allerlei
>>> Placebo
Aber anstatt diesen Effekt zu verstärken, hat die Gesundheitspolitik erfolgreich
darauf hingearbeitet,
die ärztliche Zeit vom Patienten abzuziehen und in technisch-bürokratischen
Tätigkeiten
zu neutralisieren.
Wenn heute in einer Ordination ein Systemdrucker oder ein anderer elektronischer
Bestandteil
der Ärztlichkeit ausfällt, bedeutet das im modernen Gesundheitssystem die
vorübergehende Stilllegung
ärztlicher Kompetenz. Sofort lässt der betroffene Arzt alles liegen und stehen,
um die Computeranlage
wieder in Gang zu setzen. Denn ohne funktionierende EDV in einem einwandfrei
funktionierendem
Netzwerk ist Arztsein weitgehend unmöglich geworden.
Siegmund Freud [1856-1939, österreichischer Neurologe, Tiefenpsychologe,
Begründer der Psychoanalyse, Religionskritiker] hat postuliert:
Der Arzt heilt mittels Liebe.
Dieser Ausweg ist Ärzten noch geblieben. Wäre geblieben,
wenn die Mediziner nur den Mut dazu hätten.
Den Mut zuzuhören, den Mut zu begleiten, beizustehen.
Wenn sie einfühlsamer, verständnisvoller wären.
Eine Unzahl von Beschwerdebildern könnte so zufrieden stellend behandelt werden.
Abgegolten über das "Honorar" ("honor" heißt auf Lateinisch: die Ehre) des
Arztes.
Das Ehrengeschenk. Sei es gesellschaftliche Achtung, sei es finanzieller Natur.
Für die Pharmaindustrie aber ist die
Ärzteschaft
einzig und allein
Mittel zum Zweck. Mit einem klaren Ziel,
nämlich Millionen und Abermillionen Medikamentenpackungen
zu verschreiben.
Da es bis heute nicht gelungen ist, die
Liebe zu synthetisieren und dann als
Medikament
an die Menschheit zu verkaufen, bleibt die Liebe einstweilen frei, ist noch
nicht verschreibbar,
noch nicht fassbar. Sie kann nicht qualitätsgesichert und auch nicht
ISO-zertifiziert werden.
Ihre Anwendung in der Heilkunst kann weder gefördert noch untersagt werden.
Sie ist im weitesten Sinne das letzte freie Betätigungsfeld von berufenen
Ärzten.
Die Liebe. In der richtigen Dosierung. Denn sie hat
schon oft wesentlich
mehr Wirkung (und sicher auch Nebenwirkung) erzielt als alle anderen
so genannten medizinischen Vorgangsweisen.
Wo es um Ärzte oder Medizin geht,
taucht immer wieder das Wort "Kunst" auf.
Heilkunst
Ärztliche Kunst
State of the Art
Kunstfehler
Künstliche Hüften und Knie
Kunstgriff
Die Menschen erleben offenbar das Wunder von Heilung
und die intensive
Beschäftigung von Ärzten mit Patienten immer wieder
als etwas Kunstvolles.
Aber Kunst kann nicht zertifiziert und [Selbst-] Heilung nicht erzwungen
werden,
denn Kunst wirkt auf jeden Betrachter anders und Heilung
bedeutet für jeden etwas anders.
Und wenn Kunst reproduziert wird, verliert sie an Wert, wie auch der Begriff
Heilung
in einer schmerzfeindlichen Gesellschaft seine ursprüngliche Bedeutung verliert.
Sind etwa Meisterwerke
in der bildnerischen Kunst unter dem Zwang von Normen
und gesetzlichen Vorgaben entstanden? Unterliegt Kunst ständigen
Einschränkungen?
Kontrollen? Welchen abstrusen Fortbildungskriterien unterliegen Bildhauer oder
Schriftsteller?
Gesetzlicher Willkür? Müssen Pinsel und Werkzeuge regelmäßig überprüft werden?
Leonardo da Vinci [1452-1519] und Johann Sebastian Bach [1685-1750] hatten
keine Qualitätssicherungsinstitute, die ihre Arbeit ständig vermessen hätten.
Haben keine Diplomfortbildungspunkte gesammelt und eingereicht.
Ist die intensive, umfassende Beschäftigung mit einem
Hilfe suchenden Menschen nicht auch
ein Kunstwerk? Ein Werk der verschiedenen Sinne, des Zusammenspiels von Patient
und Arzt
auf der Ebene des Verständnisses, des gegenseitigen Respekts im Sinne des
Wortes?
Komplexe Operationen zur Wiederherstellung der optimalen Funktion von Organen,
Körperstrukturen? Die Psychotherapie?
Und warum wird dem [Selbst-]
Heilen die Kunst, das Künstlerische immer mehr entzogen?
Warum fürchten sich Politiker und Verantwortliche vor einer freien,
Patientenorientierten Ärzteschaft?
Wozu die immerwährende Entzauberung der Heilkunst? wozu die ausufernde
"Diplomitis"?
Warum legt ein Landesschulrat,
der von Medizin rein gar nichts versteht, die Dauer einer Schüleruntersuchung
mit mindestens acht Minuten fest? Warum müssen Steckdosen in einer Arztpraxis
regelmäßig überprüft
werden und im sozialen Wohnbau nicht? Warum muss ein Arzt lernen, dass, was
gestern gut war,
heute nicht mehr hilft? Dass Behandlungsformen, die gestern verboten waren,
wieder erlaubt sind?
Warum muss ein Arzt zuerst lernen, dass Kombinationspräparate, die er in seiner
medizinischen
Jugend kennengelernt hat, schlecht sind, um dann, 20 Jahre später, von derselben
Pharmaindustrie
auf die große Neuigkeit von neuen Kombinationspräparaten hingewiesen zu werden?
Warum sieht keiner, dass der Kaiser keine Kleider anhat?
Warum erkennen die Ärzte
nicht, dass sie um des Marktes willen an der Nase herumgeführt werden?
Dass ihnen Stück für Stück der freie Verstand geraubt wird? Dass die Heilkunst
durch Behandlungspfade zerstört und ersetzt wird?
Oder geht es wirklich nur um
Geld und Macht?
Natürlich: Wo es um Geld geht, ist jede
Menge Macht im Spiel.
Und derzeit ist in keinem öffentlichen Bereich so viel Geld im Umlauf wie im
Gesundheitsbereich -
einzig für das Militär wird ähnlich viel Geld
ausgegeben, für den möglichen Krieg, der wieder
ausreichend Opfer schaffen würde für den Moloch Medizin
Von dieser Macht, die die Ärzte so besitzen, versucht man
sie zu befreien - als
Pharmaunternehmer, als Minister, Vorsitzender irgendeiner Plattform, einer
Arbeitsgruppe,
einer Gesellschaft, eines Vereins, eines Gesundheitsfonds, eines Direktoriums.
Immer mehr Akademiker mit Beamtenmentalität finden Freude und Lebensinhalt
im Erfinden neuer Gesetze und Regeln, die sowohl Ärzten als auch Patienten
das Leben erschweren. Hunderte solcher Regeln bemühen sich redlich,
das System zum Erliegen zu bringen.
Warum es trotzdem noch funktioniert, ist eigentlich nicht klar. Vielleicht,
weil der zivile Ungehorsam unter Ärzten
letztendlich doch ebenso hartnäckig ist
wie die Reglementierungswut auf der anderen Seite."
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Günther Loewit
(b.1958)
Österreichischer Arzt, Autor
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Buch: „Der ohnmächtige
Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“ Kapitel: Heilkunst und
Wissenschaft.
Unterkapitel: Der Arzt und sein Patient. Das Wesen Heilkunst. Seite 200 - 205.
HAYMON [Ergänzungen]