Prof. Dr. Joachim Bauer (b.1951) an der Abteilung für Psychosomatik der Freiburger Universitätsklinik, ausgebildeter Internist, Psychotherapeut, Psychiater und Molekular-Neurobiolge, schreibt in seinem Buch: „Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern" 16. Auflage PIPER 2010, im 4. Kapitel: "Wie Gene auf Stress reagieren"



im Unterkapitel (Seite 31)


Wenn Stress das Gehirn schädigt
Die
Aktivierung von Genen durch belastende zwischenmenschliche Erfahrungen oder Stress bleibt auch für das Gehirn selbst nicht ohne Folgen. Dies hat mehrere Gründe. Der erste Grund ist wiederum das bereits erwähnte Cortisol. Über längere Zeit erhöhte Cortisol-Werte, wie sie beim Menschen unter seelischer Belastung auftreten, können den Nervenzellen des Gehirns an entscheidenden Stellen erheblichen Schaden zufügen. Vor allem, wenn die erhöhten Konzentrationen von Cortisol zusammen mit einem [erregenden] Nervenbotenstoff namens Glutamat auftreten, kann dies zum Untergang von Nervenzellen führen. Der amerikanische Stressforscher Robert Sapolsky von der Stanford University verbrachte Jahre seines Lebens damit, in Afrika die Folgen von Beziehungsstress bei Menschenaffen zu erforschen. Eines seiner wichtigsten Ergebnisse war [1998], dass die durch Konflikte und belastende Beziehungen innerhalb ihrer Horde am stärksten gestressten Tiere nach einiger Zeit deutliche Beeinträchtigungen des Gehirns zeigten, und zwar vor allem an einer Hirnstruktur namens Hippocampus ["seepferdchenförmig"], die für das Gedächtnis eine besonders wichtige Rolle spielt. Inzwischen ist klar, dass dies nicht nur für Menschenaffen, sondern auch für den Menschen gilt. Eine Arbeitsgruppe um den kanadischen Forscher Michael Meaney fand [2001], dass erhöhte Konzentrationen des Stresshormons Cortisol beim Menschen nicht nur in direkter Beziehung zu späteren Gedächtnisstörungen, sondern auch zur Substanzminderung eben jenes Hirnareals (des Hippocampus) stehen, das für das Gedächtnis eine entscheidende Bedeutung hat. Die Schädigung von Hirnstrukturen durch belastende Erlebnisse und Stress ist jedoch nicht nur durch die Folgen der Aktivierung des CRH-Gens [Corticotropin Releasing Hormon] und des dadurch erhöhten Cortisols zu erklären. Während Stress einerseits eine Reihe von Genen "andreht" (unsere bisherigen Beispiele hierfür waren CRH, c-fos und Tyrosin-Hydroxylase), so werden andere wichtige Gene gleichzeitig "abgedreht" beziehungsweise in ihrer Aktivität herabreguliert. Zu den wichtigen Entdeckungen der Hirnforschung der letzten Jahre gehörte die Beobachtung, dass Nervenzellen so genannte Nerven-wachstumsfaktoren [Neurotrophine] produzieren, mit denen sie sich gegenseitig "bei Laune" oder - besser gesagt - am Leben halten. Diese Nervenwachstumsfaktoren werden, wie andere Proteine auch, dann produziert, wenn ihre Gene in den zuständigen Nervenzellen aktiviert, das heißt abgelesen, kopiert und zur Produktion eingesetzt werden. Seelischer Stress führt dazu, dass das Gen eines sehr wichtigen Nervenwachstumsfaktors namens BDNF abgeschaltet wird (BDNF ist die Abkürzung für Brain derived Neurotrophic Factor). Die Herabregulation dieses Gens durch Stress ist vor allem in der bereits erwähnten, für das Gedächtnis besonders wichtigen Hirnregion des Hippocampus [im Temporal-/Schläfenlappen] besonders stark ausgeprägt. Dort, wo die Herabregulation des BDNF-Gens durch Stress am stärksten ist, sind auch daraus folgende Beschädigungen von Hirnstrukturen am deutlichsten. Welche Rolle seelische Belastungen übrigens auch für die Gehirnalterung spielen, zeigte sich daran, dass mentaler Stress ein bestimmtes Protein (das so genannte Tau-Protein) in einer Alzheimer-typischen Weise zu verändern vermag.

im 5.Kapitel: "Die Entwicklung der individuellen Stressreaktion: Die biologischen Folgen biographischer Erfahrungen"

im Unterkapitel (Seite 37f)

Der Bewertungsmassstab zur Bewertung einer äußeren Situation: In Nervenzell-Netzwerken gespeicherte Beziehungserfahrungen

Die Bewertung neuer Situationen durch das Gehirn erfolgt durch einen in Sekundenbruchteilen [400-600 Millisekunden] vollzogenen Abgleich der aktuellen Lage mit abgespeicherten Erinnerungen an ähnliche Situationen. Eine Bewertung als Gefahr ergibt sich dann, wenn die aktuelle Situation eine Erinnerung an eine frühere Situation wachruft, in der ungute Erfahrungen gemacht wurden. Als gefährlich werden Situationen eingeschätzt, die früheren Situationen gleichen, welche z.B. vom Betroffenen selbst oder bei denen der Betroffene keine Hilfe von anderen erhielt; oder bei der bedeutsame Bezugspersonen deutlich gemacht haben, dass sie dem Betroffenen eine Bewältigung nicht zutrauen.

Das Gehirn, sein "Bewertungssystem" [Großhirnrinde, Limbisches System] und seine "Alarmzentren" [Hypothalamus, Hirnstamm]
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Individuelle Vorerfahrungen sind, wie schon erwähnt, in Nervenzell-Netzwerken des Großhirns und des limbischen Systems [Zentrum für emotionale Intelligenz: Amygdala, Hippocampus, Gyrus cinguli] abgespeichert. Je nach individueller Beziehungserfahrung repräsentieren diese Speicher eine Mischung aus persönlichen Vorerfahrungen, die teils gelungene Problemlösungen beschreiben, teils aber auch Niederlagen, Erlebnisse von Hilflosigkeit, Einsamkeit und Schmerz. Unangenehme und Angstbesetzte, so genannte "aversive" Erfahrungen werden besonders intensiv eingeprägt und sind in einer speziellen Region des limbischen Systems, dem so genannten Mandelkern (in der Fachsprache: Amygdala). Hier gespeicherte Erfahrungen beeinflussen die Bewertung einer neuen Situation in besonderer Weise. Positive oder schmerzliche Vorerfahrungen lösen sich nicht "in Luft" auf, sondern addieren sich zu gespeicherten Gedächtnisinhalten in Nervenzell-Netzwerken. Sie können einen Menschen z.B. zuversichtlich und vertrauensvoll oder ängstlich werden und zur Resignation neigen lassen. Die so entstandenen Interpretations- und Handlungsmuster sind ein wichtiger Faktor, wenn neue Situationen zu bewerten sind.

im Unterkapitel (Seite 40)

Antizipation: Die Vorauseilende Bewertung einer Situation
Vermutlich hätte sich die Menschheit bereits vor längerer Zeit aus der Evolution verabschiedet, wenn das Gehirn erst dann mit der Bewertung einer neuen, aktuellen Situation beginnen würde, wenn die Situation, zusammen mit ihren Auswirkungen, schon eingetreten ist. Viele Situationen überstehen wir nur dank einer Fähigkeit, noch nicht eingetretene Gefahrensituationen anhand von Hinweisen zu erkennen, das zu Erwartende in der Vorstellung vorwegzunehmen und Risiken beziehungsweise Erfolgsaussichten - wiederum anhand unserer Vorerfahrungen - abzuschätzen, dies alles bevor die Situation selbst konkret ist. Diese Fähigkeit zur so genannten "
Antizipation" [Vorwegnahme] verdanken wir einer speziellen Region der Stirnhirnrinde ("frontaler Cortex"). Die Befähigung zur Antizipation hat zur Folge, dass auch die Stressreaktion vorauseilen kann, wie wir im Falle der Fallschirmspringer beobachtet haben, deren Stressgene bereits vor dem Absprung "angeworfen" wurden. Menschen mit einer Schädigung des frontalen Cortex versagen bei der Aufgabe, die Regeln zu erkennen, nach denen sich riskante Unternehmungen vorhersehen und einschätzen lassen. In Situationen, wo nur die Vorboten einer Gefahr zu erkennen sind, sind sie vor Angst und Stress geschützt. Ist die akute Gefahr dann aber eingetreten, kann dies nachteilige (zum Teil tödliche) folgen haben.

im Unterkapitel (Seite 41f)

Wenn das Bewusstsein "versagt": Die Bewertung einer Situation durch unbewusste Gedächtnisinhalte
Irgendwann - lange vor Sigmund Freud [1856-1939] - muss die Evolution den Eindruck gewonnen haben,
dass die Bewusste Wahrnehmung des Menschen alleine nicht ausreicht, um ihn vor Unbill [Unannehmlichkeiten] zu schützen. So entwickelte sich eine geniale neurobiologische Begabung, die uns in die Lage versetzt, neue Situationen auch dann mit früheren Vorerfahrungen abgleichen und damit erfahrungsgestützt bewerten zu können, wenn die maßgeblichen Vorerfahrungen von uns nicht mehr bewusst [unbewusst] erinnert werden. Dieses Phänomen, das uns allen als "Intuition" oder "Ahnung" bekannt ist, wurde in einigen genialen Untersuchungen durch den amerikanischen Arzt und Hirnforscher Antonio Damasio [2000] untersucht. Damasio zeigte dies unter anderem am Beispiel eines jungen Mannes mit einer vollständigen krankheitsbedingten Schädigung des so genannten Hippocampus. Manchmal bieten solche Erkrankungen, so tragisch sie sind, die Chance, eine wertvolle Einsicht zu gewinnen. Aufgrund einer beidseitigen Schädigung der Hirnregion des Hippocampus war der Patient unfähig, irgendetwas von dem, was er aktuell erlebt, bewusst zu erinnern (von diesem Gedächtnisverlust ausgenommen war lediglich die Lebensphase vor seiner Hippocampus-Erkrankung). Eine neu in Damasios Klinik eingetretene, dem Patienten bisher nicht bekannte Mitarbeiterin sollte diesen Patienten für einige Zeit absichtlich unfreundlich behandeln, was sie nach besten Vermögen auch tat. Obwohl der Patient auch nach Wochen der "Bekanntschaft" die Mitarbeiterin bei jeder erneuten Begegnung nicht wieder erkannte und nicht sagen konnte, wer sie sei, mied er den Kontakt mit ihr und äußerte auf Befragen, er möge diese Person (die er, wie er versicherte, nicht kenne!) nicht. Aufgrund der Hippocampus-Schädigung war bei diesem Mann keine bewusste Erinnerung an die realen, unangenehmen Erfahrungen mit der Mitarbeiterin möglich, die ihn absichtlich schlecht behandelt hatte. Dessen ungeachtet war er nach einiger Zeit in der Lage, aufgrund der mit ihr gemachten Erfahrungen intuitiv [unbewusst] eine richtige Bewertung vorzunehmen. Der Patient hatte die Erfahrungen mit dieser Frau im Mandelkern (Amygdala) abgespeichert, der nicht der Kontrolle des Bewusstseins unterliegt, sich aber liebend gern alles [unbewusst] "merkt", was unangenehm und gefährlich ist. Der Patient war aufgrund dessen auch ohne bewusste Erinnerung in der Lage, die "Gefahrensituation" (in diesem Falle die Begegnung mit der Mitarbeiterin) intuitiv richtig zu bewerten. Die Erfahrung lehrt, dass solche [unbewusste] "Intuitionen" auch im Alltag gesunder Menschen eine wichtige Rolle spielen ...

im Unterkapitel (Seite 42f)

Was nach der Bewertung einer Situation passiert: Die Rolle des Mandelkerns (Amygdala)

Kommen die Nervenzell-Netzwerke der Großhirnrinde und des limbischen Systems aufgrund des Vergleichs mit ähnlichen früheren Erfahrungen zu dem Ergebnis, dass eine aktuelle Gefahrensituation vorliegt, dann veranlassen Großhirnrinde und limbisches System die
Ausrufung eines Alarmzustandes. Die "führende Rolle" spielt dabei der Mandelkern (Amygdala), wo [unbewusste] emotionale Vorerfahrungen gespeichert sind. Nervenzellen der Amygdala setzen bei Wahrnehmung einer Gefahr an ihren Synapsen [Kontaktstellen, erstmals 1897 von Sir Charles Scott Sherrington (1857-1952, 1932 Nobelpreis f. Medizin) so bezeichnet] große Mengen des erregenden Nervenbotenstoffes Glutamat [L-Glutaminsäure] frei. Nun passiert das, was...über die Stressreaktion geschildert wurde: Mit dem Botenstoff Glutamat alarmiert der Mandelkern [Amygdala] den Hypothalamus (wo daraufhin das Gen zu Bildung des Stressfaktors CRH [Corticotropin Releasing Hormon] aktiviert wird) sowie Alarmzentren des in der Tiefe des Gehirns liegenden Hirnstamms. Im Hirnstamm setzen Nervenzellen [Locus coeruleus] daraufhin an ihren Synapsen umgehend Noradrenalin frei und aktivieren das Gen Tyrsosin-Hydroxylase (dessen Produkt zu Bildung des Nervenbotenstoffes Noradrenalin beiträgt). Der Neurotransmitter (Botenstoff) Noradrenalin aktiviert Puls, Kreislauf, Blutdruck und Atmung. Die Wirkungen, die in einer solchen Situation von Noradrenalin ausgehen, lassen sich durch so genannte Betablocker-Medikamente dämpfen, weshalb diese Substanz von Vortragsrednern, Fallschirmspringern und gelegentlich auch von Prüflingen gezielt eingenommen wird (von einer Einnahme ohne Rücksprache mit dem Arzt sei jedoch entschieden abgeraten).

im Unterkapitel (Seite 43f)

Die Prägung der Stressreaktion: Erfahrungen und Gene, welche die zukünftige Angstbereitschaft beeinflussen
Die nach Auftreten einer Gefahrensituation erfolgende
Aktivierung von Nervenzellen innerhalb von Großhirn und limbischen System beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Freisetzung des Erregungsbotenstoffs Glutamat. Im Moment der Ausrufung des Alarmzustandes setzt im Großhirn und im limbischen System eine massive Aktivierung von Genen ein. Die zuerst aktivierten Gene gehören zur Gruppe der Sofortreaktions-Gene ("immediate early genes"), deren Genprodukte nach dem Schneeballsystem ["ständig wachsende Zahl Teilnehmer"] innerhalb der Zelle dann weitere Gene aktivieren. Einige der etwas kuriosen Namen der "immediate early genes", lauten c-fos, zif-268, c-jun usw. [Die ersten entdeckten "immediate early genes" waren überwiegend diese genannten Transkriptionsfaktoren. Die Anlagerung eines spezifischen Transkriptionsfaktors = Substanzen, die sich an Promoter/Enhancer Sequenzen der DNA (sog. regulatorische Sequenzen) anlagern und dabei zu einer Aktivierung oder Deaktivierung des nach geschalteten Gens führen = GENREGULATION]. Nervenzellen, die während einer Gefahrensituation aktiviert wurden und in sich bestimmte Gene anschalten, tun etwas für ihre Selbsterhaltung. Die Proteine, die im Rahmen der Aktivierung von Genen hergestellt werden, dienen Nervenzellen als Wachstumsfaktoren und verstärken die Kontaktstellen (Synapsen), mit denen die Nervenzellen untereinander vernetzt sind. Nervenzell-Netzwerke in der Großhirnrinde und im limbischen System, die an der Erkennung und Ausrufung einer Alarmsituation mitgewirkt haben, werden - als Folge ihrer Tätigkeit - stabilisiert. Diese Selbstverstärkung kann auf Dauer bedeutsame Folgen haben: Wenn sich alarmierende Erfahrungen oder Niederlagen im Leben eines Menschen häufen, werden die darauf spezialisierten Nervenzell-Netzwerke die Oberhand gegenüber anderen Netzwerken bekommen, deren Spezialität darin besteht, die Chancen und Bewältigungsmöglichkeiten einer Situation zu erkennen. Einschneidende oder oft wiederholte Vorerfahrungen von Gefahr, Niederlage, Angst und Flucht verändern neuronale Netzwerke also in der Weise, dass bei der Interpretation künftiger neuer Situationen Interpretationen die Oberhand haben, die wiederum in die gleiche Richtung gehen. Eine solche Entwicklung aufzuhalten oder rückgängig zu machen ist eine der wichtigen Aufgaben von Psychotherapien [und der resonanzpsychologischen und patentierten Methode MindLink / PrevenTest n. Dr. Johann Lechner].

im Unterkapitel (Seite 44f)

Die "individuelle" Reaktion des CRH- [Corticotropin releasing Hormone] Gens
Die Große Unterschiedlichkeit individueller Vorerfahrungen hat zur Folge, dass die Reaktion der neurobiologischen Stresssysteme von Person zu Person sehr verschieden ausfällt. Individuelle Vorerfahrungen haben daher individuelle Stressreaktionen zur Folge. Wie Untersuchungen, die Mathias Berger [1987] vor Jahren am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie durchführte, ergaben, unterscheiden sich Personen, die ein vergleichbares Ausmaß an Stressintensität erleben, in ihren nachfolgenden körperlichen Stressreaktionen erheblich voneinander. Große Unterschiede zwischen Personen, die über ein vergleichbares Maß an Stresserleben berichteten, zeigten sich vor allem in der Aktivierung des CRH-Gens mit der daran gekoppelten Aktivierung des POMC-Gens (Proopiomelanocortin), der Freisetzung von ACTH (Adrenocorticotropes Hormon [der Hypophyse]) und schließlich von Cortisol [der Nebennierenrinde]. Untersuchungen des bereits erwähnten, inzwischen an der Universität Düsseldorf tätigen Stressforschers Clemens Kirschbaum [1999] an Zwillingen haben die Annahme, dass die Unterschiede der individuellen Stressantwort auf vererbten Genfaktoren beruhen, nicht bestätigt. Das Ausmaß der individuellen CRH-Antwort auf Stress scheint, nach den Ergebnissen Kirschbaums, nicht vererbt zu sein, was die Bedeutung der individuellen [epigenetischen] Prägung des Stresssystems durch ebenso individuelle Vorerfahrungen unterstreicht.

im Unterkapitel (Seite 45f)

Die Experimente von Michael Meaney: Frühkindliche Zuwendung und späte Stressbiologie
Da sich belastende Untersuchungen von Stressreaktionen bei Kindern selbstverständlich verbieten, hat man wichtige Erkenntnisse zur Frage nach den Gründen für die unterschiedliche Empfindlichkeit der Stressreaktion durch Beobachtungen an Tieren gewonnen. Der kanadische Stressforscher Michael Meaney hat [2001] eine Serie von Aufsehen erregenden Untersuchungen durchgeführt, die aufgrund ihrer Bedeutung in den renommiertesten internationalen Zeitschriften publiziert wurden. Michael Meaneys Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass das Ausmaß mütterlicher Zuwendung nach der Geburt eine entscheidende Rolle dafür spielt, wie das CRH-Gen lange Zeit später bei den ausgewachsenen Tieren unter Stress reagieren wird. Die Intensität mütterlicher Zuwendung, die sich beim Tier durch bestimmte Pflegerituale wie Lecken der Jungen usw. ausdrückt, wurde bei diesen Untersuchungen mit objektiven Beobachtungsverfahren gemessen. Ein hohes Ausmaß von liebevoller Zuwendung nach der Geburt hatte eine nachhaltige Prägung des biologischen Stresssystems der Nachkommen zur Folge. Es zeigt sich, dass bei liebevoll "bemutterten" Jungtieren das Stressgen CRH später, im ausgewachsenen Zustand, unter standardisierten Stressbedingungen deutlich weniger stark aktiviert wurde als bei Tieren, die als Neugeborene nur wenig Zuwendung erhalten hatten. Eine ebenso wichtige Beobachtung war: Ein hohes Maß an Zuwendung hatte bei den Jungtieren zugleich eine signifikant stärkere Aktivierung eines Gens zur Folge, das den Nervenwachstumsfaktor BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor) produziert. In ihrem späteren Verhalten zeigten sich die Tiere mit viel Zuwendung nach der Geburt weit weniger ängstlich. Lernaufgaben wurden von ihnen deutlich besser bewältigt als von den Vergleichstieren. Die Zahl der Verschaltungen (Synapsen) zwischen den Nervenzellen des Gehirns war bei den "bemutterten" Tieren gegenüber den Vergleichstieren erhöht.

im Unterkapitel (Seite 46f)

Sichere Bindungen des Kindes: Stressdämpfer mit Langzeitfolgen
Wie zahlreiche Beobachtungen zeigen, ist
die Anwesenheit und Fürsorge der Mutter oder einer anderen konstanten Bezugsperson für die CRH-Stressachse des Säuglings das beste "Beruhigungsmittel" (als "Stressachse" bezeichnet man das System von Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde, welches das CRH anschaltet und zur Produktion des Stresshormons Cortisol führt). Die Trennung von der Mutter nach der Geburt stellt für Jungtiere einen außerordentlich starken biologischen Stressor dar, der zu einer anhaltenden Sensibilisierung des Stresssystems führt. Stressforscher von der Stanford University [Ropert Sapolsy,Kalifornien] fanden bei Menschenaffen, die sich früh nach der Geburt von ihren Artgenossen isoliert hatten, in einer Nachuntersuchung nach drei Jahren eine - im Vergleich zu normal aufgezogenen Jungen - massiv erhöhte Reaktion der CRH-gesteuerten Stressachse, wenn die Tiere unter Stress standen. Nicht nur die biologischen Stresswerte waren gesteigert, die Tiere verhielten sich auch allgemein ängstlicher. Frühe Erfahrungen des Kindes, insbesondere die Bindung zur Mutter haben also biologische Langzeitfolgen: Sie regulieren beziehungsweise justieren die Empfindlichkeit des neurobiologischen Stresssystems bis in die Erwachsenenzeit. Die Rolle der Mutter kann auch durch eine andere, konstante und liebevolle Bezugsperson eingenommen werden. Wie Untersuchungen von Stressforschern an den Universitäten Minneapolis [Minnesota USA] und Madison [Wisconsin USA] bei Kindern zeigten, hat die Sicherheit der Bindung des Kindes zur Mutter einen entscheidenden Einfluss auf kindliche Stressgene. Kleinkinder mit einer beeinträchtigten Bindung zur Mutter hatten - im Vergleich zu Kindern mit sicherer Bindung ‑ in Stresssituationen deutlich erhöhte Konzentrationen des Stresshormons Cortisol (zur objektiven Beurteilung von beeinträchtigter und sicherer Bindung wurden international anerkannte Tests verwendet, bei denen das Verhalten des Kindes in einer standardisierten Testsituation ausgewertet wird).

im Unterkapitel (Seite 47)

Stress während der Geburt
Die
Vorprägung des neurobiologischen Apparats scheint bereits vor der Geburt zu beginnen. Die US‑amerikanischen Kinderärzte Douglas Ramsay und Michael Lewis führten [1995] bei Säuglingen mit sehr schwierigem Geburtsverlauf vier und sechs Monate nach der Geburt Nachuntersuchungen des Stresssystems durch und verglichen die Stressreaktionen mit Säuglingen, die eine leichte Geburt hinter sich hatten. Sie untersuchten dazu die ACTH- und Cortisolkonzentrationen der Säuglinge im Anschluss an Stress, ausgelöst durch zwei Injektionen, die vier beziehungsweise sechs Monate nach der Geburt ohnehin durchgeführt werden mussten. Säuglinge, deren Geburt sehr schwierig und damit vermutlich mit größerem Stress verbunden war, zeigten als Reaktion auf die (ohnehin notwendige) Injektion sowohl nach vier als auch nach sechs Monaten eine signifikant stärkere Reaktion ihrer CRH-Stressachse als die Säuglinge mit problemloser Geburt (die Schwierigkeit der Geburt war mit dem weltweit üblichen Apgar-Punkteschema objektiv bewertet worden).

im Unterkapitel (Seite 48f)

Mütterlicher Stress und das Kind
Die Bedeutung des Schutzes und der Unterstützung, die Mütter während der Schwangerschaft brauchen, wird durch Untersuchungen unterstrichen, welche die Auswirkungen von mütterlichem Stress auf das neurobiologische Stresssystem des Kindes aufzeigten. Von verschiedenen wissenschaftlichen Arbeitsgruppen wurden Beobachtungen an schwangeren Tieren, unter anderem auch an Rhesusaffen‑Müttern, durchgeführt. Im Primatenzentrum der University of Wisconsin wurden Affenmütter während ihrer Schwangerschaft psychischem Stress ausgesetzt. (Ich halte die kritische Frage, ob Versuche dieser Art vertretbar sind, für berechtigt, möchte aber trotzdem auf die Ergebnisse eingehen, da sie eine wichtige Botschaft für uns haben.) Den schwangeren Affenmüttern wurde insofern Stress zugefügt, als man sie mehrfach für kurze Zeit von ihren Artgenossen trennte und in einen dunklen Raum brachte, wo sie einige Male mit Geräuschen aus einem Lautsprecher erschreckt wurden. Auch wenn man solche Untersuchungen für problematisch halten muss, so hatten sie doch eine für die Gesundheitsvorsorge schwangerer Frauen und ihrer Kinder äußerst wichtige Erkenntnis zur Folge: Mütterlicher Stress während der Schwangerschaft hat beim Nachwuchs später in Belastungssituationen eine bleibend erhöhte Auslenkung der CRH-Stressreaktion zur Folge. Wie ist dies zu erklären? Die Föten könnten einen Teil der Stressreize, denen die Mutter ausgesetzt war, selbst mitbekommen haben, da Ungeborene bereits im Mutterleib hören (übrigens auch tasten und sogar schmecken) können. Eine andere Möglichkeit der Erklärung ist, dass mütterliche Stresshormone während der Schwangerschaft direkt den kindlichen Organismus beeinflusst haben. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kamen [1996] Jeremy Copland und Charles Nemeroff, die in einem Primatenzentrum in New York bei Menschenaffen ebenfalls Effekte auf das kindliche Stresssystem untersuchten. Dabei wurden die Affenmütter allerdings erst nach der Geburt gestresst. Auch hier war das Ergebnis, dass die Jungtiere gestresster Mütter später regelmäßig eine Erhöhung ihrer eigenen biologischen Stressreaktion zeigten, wenn sie (die ehemaligen Jungtiere) im ausgewachsenen Zustand unter Stress gesetzt wurden. Als Ursache für den Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress und kindlichem Stresssystem wird angesehen, dass sich die nach der Geburt gestressten Mütter aufgrund der Stresserfahrung im Kontakt zu ihren Jungen anders verhalten. Das wesentliche Faktum bleibt jedoch, dass mütterlicher Stress die biologischen Stresssysteme des Kindes beeinflusst.

im Unterkapitel (Seite 48f)

Schützende zwischenmenschliche Bindungen: Schützen Frauen besser?
Dass zwischenmenschliche Bindungen die biologischen Stresssysteme schützen, gilt nicht nur für das Kind, sondern auch im späteren Leben. Bindungen und soziale Unterstützung haben sich in zahlreichen Studien als einer der wichtigsten Schutzfaktoren gegenüber extremen Ausschlägen der biologischen Stressreaktionen erwiesen.
Wenn soziale Unterstützung hilfreich sein soll, so muss sie allerdings, wie sich in einem kuriosen Experiment der bereits erwähnten Trierer Stressforscher zeigte, von der "richtigen" Person kommen. Das Ergebnis dieses Versuches muss den Männern zu denken geben: Erwachsene Männer und Frauen wurden dem bereits beschriebenen Trierer Stresstest unterworfen (zehn Minuten Vorbereitung, dann fünf Minuten freier Vortrag vor einer Kommission, dann fünf Minuten Kopfrechenaufgabe). Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer musste den Test allerdings zweimal (an zwei verschiedenen Tagen) machen: einmal alleine und einmal unter Mithilfe des (Ehe‑)Partners beziehungsweise der (Ehe‑)Partnerin, der beziehungsweise die während der zehnminütigen Vorbereitungszeit anwesend sein und Unterstützung geben durfte. Wenn ich bei Vorlesungen an der Universität das Bild mit den Ergebnissen dieser Untersuchung an die Wand projiziere, bricht bei meinen Studentinnen (je nach vorhandenem Humor auch bei den Studenten) jedes Mal große Heiterkeit aus. Bei den männlichen Testteilnehmern waren die Anstiege der Cortisol-Stresswerte während des Tests deutlich gedämpft, wenn sie während der Vorbereitungszeit ihre Partnerinnen bei sich haben konnten. Bei den weiblichen Testteilnehmerinnen lag der stressmindernde Effekt auf die Cortison-Werte, wenn ihre Partner während der Vorbereitungszeit zur "Unterstützung" anwesend sein durften, bei null. Im Gegenteil, die Anwesenheit ihrer männlichen Partner erhöhte den Stress der Frauen!


Seite 50f
ZUSAMMENFASSUNG:

Die biologische Reaktion auf Belastungen (Stress) ist von Person zu Person unterschiedlich. Entscheidend für die seelische und körperliche Reaktion auf eine äußere Situation ist - von Extremsituationen abgesehen - nicht die "objektive" Lage, sondern die subjektive Bewertung durch die Seele und durch das Gehirn. Die Bewertung aktueller, neuer Situationen erfolgt durch die Großhirnrinde und das mit ihr verbundene limbische System (das eine Art "Zentrum für emotionale Intelligenz" darstellt). Wie die Bewertung ausfällt, hängt von Vorerfahrungen ab, die das Individuum in ähnlichen Situationen gemacht hat, die in Nervenzell-Netzwerken gespeichert sind und mit denen das Gehirn die aktuelle Situation abgleicht. Auf Grund der Unterschiede individueller Biografien fällt dieser Abgleich, auch wenn eine aktuelle Situation "objektiv" identisch ist, von Person zu Person verschieden aus. Wird eine aktuelle äußere Situation aufgrund von Vorerfahrungen in ähnlichen früheren Situationen von der Großhirnrinde und dem limbischen System als alarmierend eingeschätzt, so werden unter "Federführung" des Mandelkerns (der Amygdala), der zum limbischen System gehört, die Alarmzentren des Gehirns (Hypothalamus und Hirnstamm [Locus coeruleus] aktiviert, die ihrerseits massive Körperreaktionen in Gang setzen. Da äußere Situationen jedoch, wie bereits ausgeführt, individuell verschieden bewertet werden, fällt auch das Ausmaß der Aktivierung von Alarmsystemen durch den Mandelkern (Amygdala) von Person zu Person unterschiedlich aus - auch dann, wenn die äußere Situation "objektiv" die gleiche ist. Wie wissenschaftliche Studien zeigten, hinterlassen früh nach der Geburt gemachte Erfahrungen von sicherer Bindung zu Bezugspersonen im biologischen Stresssystem einen Schutz, sodass die biologische Stressreaktion auf später im Leben auftretende Belastungsereignisse "im Rahmen" bleibt. Umgekehrt haben frühe Erfahrungen von Stress eine erhöhte Empfindlichkeit ("Sensibilisierung") des biologischen Stresssystems zur Folge. Sichere Bindungen schützen jedoch nicht nur das Kind vor Stress. Soziale Unterstützung und zwischenmenschliche Beziehungen bleiben das ganze Leben hindurch der entscheidende Schutzfaktor gegenüber übersteigerten und potentiell gesundheitsgefährdenden Folgen der Stressreaktion.

mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. med. Joachim Bauer (e-mail vom 20.7.2011)

Weiterführende Literatur des Autors:
1. Das kooperative Gen: Evolution als kreativer Prozess HEYNE 2010 (2008)
2. Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Elter HEYNE 3.Auflage 2010 (2007)
3. Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern PIPER 16. Auflage 2010 (2004)
4. Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone HEYNE 18.Auflage 2012 (2005)
5. Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren [oder Die Entdeckung des Social Brain] HEYNE 7. Auflage 2014 (2006)
6. Arbeit - Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht KARL Blessing Verlag 1. Auflage 2013 u. KINDLE 2013
7. Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt HEYNE  3.Auflage 2013 (2011)
8. Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens KARL Blessing Verlag 2.Auflage 2015