Vom "Gehen" zu dem, "was bleibt"
Kapitel 17, Seite 243-248
Aus: „Vom Sinn des langen Lebens – Wir werden, was wir sind“ dtv 2004
(The Force of Character. And the Lasting Life 1999)
James Hillman
(1926-2011)
Jungscher Psychoanalytiker USA



„Tod und Frau“
(1518–1520)
Hans Baldung Grien
(1484-1545)
D
eutschen Maler, Zeichner, Kupferstecher


"Nehmen wir an, sie würden das Wort "gehen" durch das Wort "sterben" ersetzen
und für das Wort "altern" das Wort "vorbereiten" benutzen.

Dann ist das, was wir in unseren letzten Jahren erleben,
die Vorbereitung auf unseren Abgang.


Dies ist der einfachste Weg, sich den Übergang vom "Gehen" zu dem, "was bleibt", vorzustellen.
Wir machen langsamer und durchforsten die Dinge im Geiste, weil es so viele Vorbereitungen
zu treffen gilt. So wie die Seele langsam in die Welt kommt und all die Jahre der Kindheit
braucht, um sich auf das Leben hier einzustellen, so verlässt sie diese Welt auch
langsam und braucht Jahre des Alterns, um zu packen und sich auf den Weg
zu machen.

Ich finde diese Art Denken keinesfalls hilfreich.

Die simple Machart dieser Logik betrügt das menschliche Leben
um die Komplexität seiner späten Jahren und ist außerdem
in ihrer Simplizität schlichtweg gefährlich.


Gefahren lauern von drei Seiten:
Erstens, wenn wir alle Gedanken über das Gehen mit dem Tod in Zusammenhang bringen,
denken wir nicht mehr über das Leben nach.

Zweitens spaltet dieses Denken unsere Neugier auf das Abenteuer dieses Leben, so dass sich
ein Teil dieser Neugier metaphysischen Fragen nach dem nächsten Leben zuwendet - dem Leben
nach dem Tod, Reinkarnation, Himmel und Hölle und anderen vermeintlichen Zeichen
vom andern Ufer des Flusses.

und drittens wird überhaupt nicht mehr gefragt, was bleibt, wenn Sie gegangen sind.

Verweilen wir deshalb am diesseitigen Ufer und schauen wir uns näher an,
"was bleibt".

Im Englischen ist das Wort "left" (das hier mit "was bleibt" übersetzt wurde, aber, wie
im Folgenden sichtbar wird, noch viele weitere Bedeutungen hat, Anm.d.Ü.)
das Prinzip Perfekt von "leaving" (gehen) und kann zweierlei ausdrücken;
entweder wir sagen "has left" oder "is left". Ersteres bedeutet, "nicht hier, gegangen",
das zweite besagt: "noch hier, bleibt".

Können wir gegangen sein und trotzdem bleiben?

Wir können sagen, dass der Körper bleibt und die Seele geht;
oder dass der Körper verwest, während die Seele unvergänglich ist.

Weil es nicht leicht ist, sich beides gleichzeitig vorzustellen, trennen wir es
an einer uralten falschen Scheidelinie, die unserer Kultur zugrunde liegt;
an der Spaltung von Körper und Seele.

Bleibt der Körper in einer Urne voll Asche, während die Seele wegschwebt
in ein ewiges Reich? Oder bleibt nichts, wenn sie erst einmal gegangen sind?

Über das, was bleibt, gibt es immer wieder die gleichen Streitereien - die Entsorgung
des Körpers, das Vermögen. Und über das, was gegangen ist, ebenfalls.

Wohin sind Sie gegangen; wo befinden sie sich jetzt? Gibt es ein anderes Leben?
Können sie zurückkommen; und werden Sie tatsächlich zurückkommen?
Können wir "gehen" und "bleiben" verbinden? Können wir uns beides
zusammen vorstellen?

Ich schlage vor, dass wir den zu stark vereinfachten Gegensatz von Körper und Seele aufgeben
und uns stattdessen einen einzigartigen Charakter vorstellen, der in Bildern verkapselt ist.

Diese Bilder haben eine körperliche Gestalt und wirken wie körperliche Kräfte.
Sie können in den Ohren klingen und durch Ihre Träume spazieren. Und ihre
dauerhafte Stärke kann Ihre Gewohnheiten, Ihren Geschmack und Ihre Entscheidungen
auch dann noch beeinflussen, wenn die Person, welche die ursprüngliche Quelle dieser Bilder
war, schon seit Jahren von der Bühne abgetreten ist.

Ein Charakter wird durch Elemente von Körper und Seele lebendig und ist auf keines
von beiden reduzierbar, ja, nicht einmal auf beide. Der Charakter ist ein
unabhängiges Gefüge; er ist weder der Körper im Grab, noch die Seele
auf dem Weg zu ihrer theologischen Bestimmung.

Sagen wir, Ihre Mutter - oder ein Ehemann, ein Geliebter, ein Lehrer, eine sehr enge Freundin,
eine Person, die Sie nur flüchtig kannten - ist gegangen: Als Kraft ihres Charakters
wird sie dennoch bleiben.

Die Bilder von Menschen überleben deren Hinscheiden
und haben dann manchmal noch mehr Macht
.

Diese Bilder sind nicht einfach nur Erinnerungen, die ausschließlich und subjektiv ihnen gehören;
sie besitzen eine verblüffende Autonomie. Sie stellen sich uneingeladen ein; mitten in einer
Entscheidungsfindung wispern sie uns einen Rat, Missbilligung oder Kritik zu. Sie inspirieren uns.
Sie bringen uns durch Sehnsucht in Versuchung. Sie lassen uns an Meinungen festhalten,
die wir vielleicht schon längst aufgegeben hätten. Sie zwingen uns, unser Herz an belanglose
Dinge zu hängen, die in unseren Schränken und Schubladen Platz wegnehmen. Doch sie wirken
auf uns ein wie Relikte jenes Charakters, die durchtränkt sind von seiner bleibenden Macht.
"Ich kann das einfach nicht wegwerfen!" Und wenn wir es schließlich doch tun, fällt uns dieser Schritt
schwer und gestaltet sich zeremoniell wie ein Ritual.

Wenn sie sich Ihrer Erinnerungen an einen Menschen einfach nur anschauen, werden Sie die Fülle
seines Charakters vielleicht kaum vermuten. Nehmen wir an, Ihr Vater ist gegangen: doch sein Charakter
wird bleiben, sich ständig weiter entfalten und Sie fahren fort, etwas über ihn zu erfahren und von ihm
zu lernen. Er kommt Ihnen in Rückblenden und Tagträumen fortwährend wieder in den Sinn.
Wenn Sie altern und ihm immer ähnlicher werden, haben sie oft das Gefühl, dass er Ihnen näher ist.
Ein kurzer Blick in den Spiegel, ein Gericht im Restaurant, ein Witz in einem alten Film, und bestimmte
Züge von ihm, die Sie nie zuvor bemerkt haben, werden deutlich. Bei genauer Untersuchung legen die
Bilder immer mehr offen, verändern den Nachruf, verleihen bestimmte Eindrücken neue Nuancen
und fahren fort, Ihnen etwas beizubringen.

Lange, bevor Sie gegangen sind, umfassen Sie bereits ein Gewirr von Bildern, die Ihre Komplexität zu
einem "Charakter" verdichten und mit ihrer bildhaften, lebendigen Kraft andere Menschen beeinflussen.

Weil wir uns das Bild, das andere empfangen, nicht vorstellen,
wissen wir kaum etwas über den Einfluss unseres eigenen Charakters.

Bilder dieses Charakters wandern in die Träume und Gedanken anderer Menschen,
entzünden Reaktionen, wecken Gefühle, lösen Fragen aus, als würden sie zu etwas rufen.

Was also bleibt, wenn Sie gegangen sind?
Der Charakter, das Schichtbild, das von Anfang an Ihr Potential und Ihre Grenzen bestimmt hat.

Die späteren Jahre definieren diesen Charakter klarer, als würden die wiederholten Geschichten und
erotischen Phantasien, die Nachtwachen und die gehetzte Suche in den Hallen der Erinnerung uns die
Einzigartigkeit unseres Charakters aufzwingen. In einem Stuhl sitzen gelassen, auf einer Bank abgesetzt,
unsere Reichweite beschränkt, unsere Kräfte ungewiss, werden wir immer mehr auf diejenigen Bilder reduziert,
zu denen wir geworden sind, jenem "Bild, das auf Bild gebeugt / Noch neue Bilder zeugt
[1]."

Zurückbleiben.
Diese Möglichkeit bedroht jede intime Verbindung, vor allem die enge Freundschaft, zu der sich eine Ehe
entwickeln kann. Phantasien, die Person zu sein, die verlassen wird, die übrig bleibt, die der andere zurück-
bleiben lässt, die allein bleibt, schleichen sich von Anfang an in eine Ehe ein und klingen in den Worten an,
die in den Gelübden enthalten sind: "Krankheit", "verlassen", "Tod", "scheiden".

Die Vereinigung bringt die Möglichkeit der Trennung, der Täuschung, des Verlassenwerdens und der
Scheidung mit sich. Noch bevor das Abstandnehmen beginnt, kann der archetypische Zustand
des Zurückbleibens uns in quälende Spannung versetzen.

Diese Ängste sind nicht reduzierbar auf jene Kindheitsängste vor dem Verlassenwerden.
Zurückbleiben ist ein Zustand, der ganz und gar dem Erwachsenen vorbehalten ist, den eine Ehe
als Möglichkeit birgt und dessen Wahrscheinlichkeit mit der Zahl der Hochzeitstage zunimmt.

Die Mythen und Kulte der griechischen Göttin der Ehe, Hera, handeln direkt von diesem Leid.
Hera nahm drei grundlegende Gestalten an, die den drei Phasen des Mondes - zunehmend, voll
und abnehmend - entsprachen sowie den drei Landschaften ihres Kultes (in Stymphalos) - Berg,
Stadt und Sumpfsee. Die drei Gesichter Heras - Jungfrau, Frau und Gattin, Witwe -
entsprechen dem Gelände ihres Kultes.
[2]

Die abnehmende Phase, die metaphorisch dem Sumpf des Flachlandes und dem gedämpften Mondlicht
entspricht, steht direkt für den Zustand des Zurückbleibens. "Chera" - einer von Heras Namen
[3]-
und ihre Artverwandten haben sämtliche folgenden Bedeutungen: "Witwe" und "Witwer"; "beraubt",
"hinterblieben"; "weggehen, verlassen"; "in Einsamkeit leben"; "Exil"; und auch "Bedürfnis"
und "bedürftig". Heute könnten wir hinzufügen "obdachlos" und "Stadtstreicherin".

Diese Phantasien, die auf das hohe Alter projiziert werden,
können uns jedoch in jedem Alter überfallen.

Eine Ehe bietet dem Heimatlosen kein wirkliches Zuhause. Sie ist eine durchlässige Festung,
denn ebenso wie Hera ihre Begründerin ist, gehört chera in ihre Grundmauern. Also versuchen wir,
die Ehe mit festen Mauern zu umgeben, um ein solides Zuhause zu errichten, voll gestopft mit
gemeinsamen Anschaffungen. Zeugen unser physischer Wohnort und seine Einrichtung von
unserem Versuch, chera aus unseren vier Wänden nach draußen auf die Straße zu verbannen,
so dass nur eine vage, aber keine akute Bedrohung bleibt? Hera selbst fand gefallen an Häusern.
Domos (Haus) und Domestizität waren ihr Gesicht.

So wie das Bauen eines Hauses mit der Hoffnung auf Sicherheit verbunden ist, löst ein Umzug enorme
Ängste vor dem Verlust von Bindung und Veränderung der häuslichen Routine aus. Wenn wir nur hier
wohnen bleiben könnten, könnten wir zusammenbleiben und werden niemals verlassen.

Wo immer Hera auftaucht, ist auch chera. Neben dem unterwürfigen, kuhäugigen Mädchen, das in
der Seele der Ehe niemals stirbt, und der Frau in der herrschenden Stellung, die alles zusammenhält
und der gedient werden muss, gibt es die immer bedürftige ewige Verlassene.

So wie diese Göttin sämtliche drei Zustände unlösbar miteinander verbindet und in ihrer einen Gestalt vereint,
sind auch die drei Potentiale in ihrer Institution gegenwärtig. Die Phantasie, verlassen zu werden,
beschäftigt ein Paar auch dann, wenn der Mond am vollsten ist. Wenn wir heiraten, heiraten wir chera,
auch wenn wir an jenem Tag nur Hebe sehen, Heras jüngere, lächelnde Gestalt."...

[1] William Butler Yeats:
„Sailing to Byzantium“ in Ausgewählte Werke.
[2] Karl Kerenyi: "Zeus und Hera. Urbild des Vaters, des Gatten und der Frau" Leiden: E.J. Brüll 1972, S.93ff.
[3] Pausanius: Reisen nach Griechenland. A.a.O. VIII.22.2, S.48




"In Voluptate Mors"
Die Lust im Tod
(1951)


Salvador Dali
(1904-89)
Spanischer Maler, Grafiker, Schriftsteller, Bildhauer,
Bühnenbildner - Hauptvertreter des Surrealismus


Photographie von Philippe Halsman (1906 Riga -1979 in New York)
Porträt- und Modefotograf


..."Der Charakter starb im 20. Jahrhundert. Ihn wieder zu beleben wird nicht leicht sein ...

Wenn die Philosophie die Wichtigkeit des Charakters für den Wert des Erkennens ignoriert,
ist die Folge ein moralischer Verfall, und die moralische Wiederbelebung hängt
von einer philosophischen Richtigstellung ab ...

Der erkenntnistheoretische Fehler ist, kurz gefasst, folgender:

Um die Welt "da draußen" zu erkennen, konstruierte die Philosophie ein erkennendes Subjekt "hier drinnen".
Da die Welt letzten Endes als charakterlose Abstraktion (Verallgemeinerung, Vereinfachung) von Zeit, Raum
und Bewegung wahrgenommen wurde, musste der Erkennende ebenso transzendent sein und entsprechend
objektiviert, das heißt, sämtlicher charakteristischer Züge beraubt werden.

Die Methode, zu Erkenntnissen über die Welt zu gelangen, musste gereinigt werden; sonst wären unsere
menschlichen Beobachtungen allzu menschlich, qualifiziert durch individuelle Subjektivität,
hauptsächlich anekdotenhaft und deswegen unzuverlässig und deswegen unwahr.
Der ideale Erkennende der Wahrheit musste ein leerer Spiegel
gereinigten Bewusstseins sein ...

Diese charakterlose, sinnlose Welt ohne Farbe, Geschmack oder Klang abbauen
heißt zulassen, dass sie in ihre zahlreichen verschiednen Eigenschaften zerfällt.
Das bedeutet die Welt so nehmen, wie sie ist, ein Füllhorn von Phänomenen
und die Phänomene vor Abstraktion retten.

Die Natur verabscheut tatsächlich jedes Vakuum. Eine Welt, die durch ihre Eigenschaften definiert und
als Fülle von Eigenschaften wahrgenommen wird, verlangt die gleiche Fülle bei ihren Beobachtern.

Gleiches kennt Gleiches. Wenn die Welt eine chaotische Vielfalt ist, dann folgt die Definition des Bewusstseins
einer, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem französischen Philosophen Henri Bergson
(1859-1941) vorgeschlagen wurde: "qualitative Multiplizität"...


Wir würden das Bewusstsein als ebenso vielfältig wahrnehmen wie die Welt,
ein Mikrokosmos des Makrokosmos: wie innen, so außen.

Statt davon auszugehen, wir seien nach dem Bildnis eines einzigen transzendenten Gottes
erschaffen worden, würden wir uns als vielfältige Bilder der Welt betrachten.

Wenn wir alt werden, ist der Charakter der Welt für uns präsenter, ihre "Wunder nehmen kein Ende".
Das Bewusstsein der späten Jahre, das sich trübt und aufblitzt, kommt und geht,
entspricht der pulsierenden Mannigfaltigkeit der Welt ...

Was würde geschehen, wenn der Charakter philosophisch zurückkehrte?

Unser Sprechen würde sich radikal verändern, denn es würde von uns und der Welt so erzählen,
wie wir uns zeigen. Charakteristiken brauchen Beschreibungen, Gesichter haben ihre Eigenart,
Phänomene stellen Bilder dar. Die Sprache kann darauf eingehen, indem sie beschreibender, bildhafter wird.

Da das Bewusstsein immer vom Charakter geprägt ist, gilt dies auch für das Unbewusste. Auch das würde
charakterisiert und nicht länger als allgemeine Verteidigung grober und dummer Taten gelten, die eine
weitere Maske der Ignoranz darstellen. Wir wären unwissend, vergesslich, grausam, launenhaft,
aufgebracht, gleichgültig, dumm, überstürzt - aber nicht "unbewusst".

Statt "den Willen" als abstrakte Komponente einer Person und "wollen" als Verb in variierenden Stärken zu betrachten,
würden wir vom willentlichen, bereitwilligen, unwilligen oder zögernden, freiwilligen, aggressiven Handeln sprechen ...
Das Verb "denken" würde sich in viele verschiedene Formen von Bedächtigkeit auflösen - unbedacht, bedacht, wohl
durchdacht, gedankenlos. Ein Gedanke würde niemals allein reisen; er würde begleitet von Adjektiven wie "dunkel",
"klar", "scharf", "verwickelt", "rigoros", "umfassend", "brillant", "verworren", "logisch", "durchdringend", die ihn
näher bezeichnen ... Auch der reine Gedanke würde sich einer genaueren Charakterisierung unterwerfen.

Wir würden geistige Aktivitäten ähnlich benennen, wie viele Eingeborene und kleine Kinder es tun.
Wir würden Personen und Orte, göttliche oder natürliche Kräfte nicht mit einzelnen Abstraktionen,
sondern immer mit beschreibenden Adjektiven, Adverbien und präpositionalen Kombinationen
bezeichnen: Sitting Bull (Sitzender Bulle, Indianerhäuptling), die Katze im Hut, Aphrodite Kallipygos,
Weiß-dehnt-sich-hügelabwärts-zum-Wasser (Name der Apachen für einen Ort).

Wir würden wieder anfangen zu sehen, was wir sahen,
bevor Abstraktionen unseren Geist eroberten:
Das gelebte Leben ist durch und durch charakterisiert. Adjektive und Adverbien sind die eigentlichen Kräfte,
die bei der Wahrnehmung der Welt und in unserem Verhalten auf uns einwirken. Unsere Sprache würde wieder
Verbindung aufnehmen mit der Welt, in der Wolke, Strauch, Maus nicht rein und eigenschaftslos sind,
sondern jede Wolke hat eine Form, steht still oder bewegt sich, steht in Beziehung zum Land unter sich
und zu anderen Wolken; jeder Strauch gehört einer bestimmten Art an und ist ein besonderes Exemplar;
diese besondere Maus mach ihre Sache auf ihre ganz eigenartige Weise.

Sprache würde kreativ imaginiert, um der Imagination (Vorstellungskraft) der Schöpfung zu gleichen ...

Imaginieren üben heißt auch durch unseren Beitrag dazu einladen, das Gespräch fortzuführen,
statt nur gegensätzlicher Meinung zu sein. Im Gespräch Bilder zu erfinden macht sicher mehr Spaß
als Information zu vermitteln ... Bilderreiche Kommunikation kann langfristig ökonomischer sein
als Abstraktionen, die immer weitere Spezifikationen erfordern."...
[Seite 256-264]



..."aber erst zur Zeit des Christentums wurde der Charakter moralisch betrachtet. Biblische Gestalten
wurden zu exemplarischen Figuren: Ruth, die treue Nachfolgerin; Abraham, der gehorsame Patriarch;
Aaron, der Bruder; Martha, Peter, Judas ... Die Heiligen lieferten Bilder für das Nacheifern und Anbeten,
damit der gläubige jene Tugenden erlangte, die sie verkörperten ...

Die Moralisierung des Charakters ist nicht einfach Vergangenheit.

Wenn es heißt, das ist "eine Frage des Charakters", geht es eher um Gewohnheiten, die von kirchlichen Kanzeln herab
und von pedantischen Politikern angeprangert werden, als um die grundlegende Bedeutung von "Charakter":
nämlich die besonderen Kennzeichen der Identität, durch die Menschen sich voneinander unterscheiden ...

In Lob oder Tadel verstärken die moralische Vorstellung vom Charakter, und diese Urteile lassen
auch die tugendhafte Moralität unseres eigenen Charakters deutlich werden.

Doch der Charakter hat ein besseres Refugium (Zufluchtsort, Unterschlupf), sein ältestes, weit weg
von den Militärakademien, den Kanzeln und Waisenhäusern: die Astrologie ...

Die Haupttugend der Astrologie besteht jedoch darin, dass sie eine himmlische Fülle von Charakteristiken
bietet, welche die individuelle Seele auf archetypische Mächte verweisen ...
Sie spricht in Bildern vom Charakter ...

Wir versuchen ihn (den Charakter) sowohl von der Religion als auch von der Wissenschaft zu befreien,
indem wir seine Psychologie vertiefen und feststellen, dass der Charakter weniger durch moralische Tugenden
als durch individuelle Eigenschaften bestimmt wird."
[Seite 267, 269, 272]



"Die Tugenden des Charakters"
Kapitel 23, Seite 297-30
[Tugend: eine Fähigkeit und innere Haltung, das Gute mit innerer Neigung,
d. h. leicht und mit Freude, zu tun.]


"Außer dem Altwerden Wert und Sinn zu verleihen, hat der Charakter noch weitere Tugenden.
Wir können diese im folgenden ziemlich der Reihe nach benennen und damit
die Idee des Charakters nochmals näher erläutern.

1. Die Idee des Charakters beruht auf der archetypischen Vorstellung des Unterschieds.
Im Wörterbuch wird der Charakter einfach definiert als "jedes wahrnehmbare Anzeichen, Qualität oder Besitz, durch
die sich ein beliebiges Ding, eine Person, eine Spezies oder ein Ereignis erkennbar von anderen unterscheidet".
Damit bestätigt der Charakter das Einzigartige, Einmalige, Eigenartige und singt sogar ein Loblied darauf.
Da der Charakter Individualität in den wahrnehmbaren Anzeichen des Unterschieds ansiedelt,
ist Exzentrizität für ihn eine Notwendigkeit.


2. Auch körperliche Gegebenheiten sind symbolische Darstellungen des Charakters und sollten
bei dessen Erforschung nicht ausgeschlossen und in die Charakterpsychologie abgeschoben werden.
Der Charakter umfasst Psyche und Soma; er ist eine psychosomatische Idee.

3.
Der Charakter stellt sich dar. Er erfordert eine beschreibende Sprache - Adjektive wie "knauserig",
"scharf", "eigensinnig"; Adverbien wie "langsam", "gründlich", "bedacht" -, die Bilder vermittelt und Gefühle weckt.
"Fürchte Abstraktionen", schrieb Ezra Pound [1885-1997], "benutze keine Adjektive, die nichts enthüllen."
Der Charakter bereichert das psychologische Denken um die 17.953 Eigenschaften, die das
"Harvard Psychological Laboratory" aufgelistet hat. Jede dieser Eigenschaften gibt genauere Aufschlüsse
über eine bestimmte Form des menschlichen Verhaltens. Indem sie den Charakter genau und verständlich
umreißt, geht die poetische Sprache weit über die Sprache der Verhaltenswissenschaften hinaus.

4.
Der Charakter ist eine Ansammlung von charakteristischen Eigenschaften.
Wir erwarten vom Charakter nicht, dass "er strikt einheitlich ...(ist). Der Charakter ist die gesamte Struktur,
ohne dass wir die einzelnen Züge als Schichten betrachten, die von einem Kern zusammengehalten werden"
,
schreibt die Philosophin Amelie Rorty. Da sich die Idee des Charakters vereinfachenden Reduktionen widersetzt,
erfordert die gründliche Erforschung des Charakters eine komplexe Form von Intelligenz. Diese schätzt es,
wenn die Schichten als poetische oder gemalte Bilder nebeneinander gestellt werden und gibt
die Suche nach einem einheitlichen Kern auf.

5. Der Charakter ist als Bild wahrnehmbar. Er zeigt sich als Stil, Gewohnheit, Geste, Veranlagung, Zustand,
Haltung, Gebaren und Präsenz. Das Gesicht enthüllt den Charakter und appelliert an ihn.
Als Bild muss der Charakter sowohl imaginiert als auch wahrgenommen werden.

6. Der Charakter wurde immer unterschieden von Talent, Befähigung, Gaben und messbaren Eigenschaften.
Er kann durch Unzulänglichkeiten gelähmt und in Fixierungen befangen sein, während er zugleich mit Talenten
und Fähigkeiten glänzt. Der Charakter unterwirft sich normierten Leistungsanforderungen nicht.
Die charakteristische Einzigartigkeit eines Stils entzieht sich der Analyse.

7. Der Charakter entzieht sich auch dem moralischen Zugriff. Er zeigt sich nicht in der Moralität des Verhaltens, sondern in
dessen Stil. Charakterzüge beinhalten sowohl Laster als auch Tugenden. Sie bestimmen den Charakter nicht. Der Charakter
bestimmt sie. Beharrlichkeit und Loyalität können sowohl zu kriminellem Handeln als auch zu gerechten Taten anstiften.
Freundschaft kann sowohl zu Rache als auch zu Selbstaufopferung motivieren. Die imaginative Reichweite des Charakters
kann nicht in eine ethische Definition gezwängt werden, ohne dass seine Natur pervertiert
und seine schöpferische Kraft beschnitten wird.

8. Anders als die "Persönlichkeit" ist der Charakter unpersönlich. Steine, Gemälde, Häuser und selbst
bestimmte Bakterien und logische Vorschläge zeigen Charakter. Die Darlegung der Persönlichkeit
ist menschliche Psychologie; die des Charakters bildliche Beschreibung.

9. Was über die Persönlichkeit gesagt wurde, gilt auch für das "Selbst". Das Selbst verweist auf sich zurück und verschmilzt
mit seinem abstrakten Rivalen, dem "Ich". Das selbst ist beschränkt auf Personen. Wir sprechen einem Pferd, einer Pinie oder
einem Gebirge kein selbst zu, doch ihren Charakter spüren wir deutlich. Das Selbst, das oft mit dem Zeitlosen im menschlichen
Wesen gleichgesetzt wird, hat zum archetypischen Thema des Altseins wenig beizutragen. In Todesanzeigen ist von Charakterzügen
die Rede; wenn wir versuchen wollten, das dahingegangene Selbst zu preisen, würden uns die Wort fehlen. Formulierungen
des Selbst enthalten keine begrenzenden Charakterzüge. Das Selbst verschmilzt mit Gott.

10. Aufgrund seiner Einzigartigkeit geht der Charakter über Temperament und Typ hinaus. "Typ" reduziert den Charakter
auf "zweidimensionale flache Charaktere" (Edward Morgan Forsters (1879-1970) Formulierung). Das Temperament
zeigt sich, je nach Charakter, auf unterschiedliche Weise. Ein introvertiertes Temperament kann sich in unzähligen
verschiedenen Stilen äußern: Eigensinn, Ängstlichkeit, oberflächliche Anpassung, Schüchternheit, Verschlossenheit,
systematische Verleugnung, tiefe Konzentration. Dies Bezeichnungen rufen Bilder wach; das Wort "introvertiert" hingegen
hinterlässt Leere im Kopf. Während für die Definition der Introvertiertheit ein Schema von Gegensätzen erforderlich ist,
stehen die Eigenschaften und Bilder des Charakters für sich.

11. Der Charakter hinterlässt seine Spuren in der politischen Geschichte. Als bestimmender Faktor
des Verlaufs menschlicher Ereignisse bindet der Charakter die Psychologie an die Gesellschaft
und entführt sie ihrer besessenen Subjektivität.

12. Der Charakter bringt den Begriff Schicksal wieder in die Psychologie ein, denn die Ersatzbegriffe für den Charakter haben diese
uralte Verbindung gelöst. Die Bezeichnungen "Ich", "Persönlichkeit", "Selbst", "Handelnder", "Individuum" reduzieren die Psychologie
auf das Studium menschlichen Verhaltens - auf Verarbeitungsprozesse, Funktionen, Motivationen - und lassen
die schicksalhaften Konsequenzen, die mit der Idee des Charakters verbunden sind, außer Acht.

13. Der Charakter ist für die späten Jahre das, was der individuelle Ruf des Daimons [in der griechischen Mythologie und Philosophie
die Personifikation der Schicksalsbestimmung eines Menschen] für die frühen Jahre ist; er verleiht den Veränderungen,
die mit dem Altwerden einhergehen, Sinn und Zweck. Der Charakter ist eine therapeutische Idee."...

..."Der Charakter nötigt mich, jedes Ereignis auf meine ganz eigene Art und Weise zu betrachten.
Er zwingt mich, anders zu sein als die anderen. Ich gehe auf seltsame Weise durchs Leben.
Niemand geht so wie ich, und das ist mein Mut, meine Würde, meine Integrität,
meine Moral und mein Verderben" ...[Seite278]

..."Wenn der Charakter das eigentliche und letzte Ziel des Altwerdens ist,
dann bringt er das Leben zum Abschluss, poliert es auf Hochglanz
zu einem Bild, das länger bleibt. Eine griechische Inschrift lautet:

"Ich, der ich ein solcher war, bin jetzt eine Tafel,
ein Grab, ein Stein, ein Bild
"[1]

Was bleibt, nachdem sie gegangen sind, ist Ihr Sein, verkörpert in Bildern,
vor allem den Bildern zum Ende hin, wenn Sie vieles abgestreift haben
und die Ausführung Ihres Charakters als Ihre besondere Einzigartigkeit
offensichtlicher wird.

"Sowohl unser Ruf und Ruhm als auch unser Kummer
wird darin gelegen haben, dass wir etwas Einzigartiges waren
."[2]

Diese Einzigartigkeit gehört zu unserer biologischen Substanz.

Vielfalt ist mehr als die Würze des Lebens;
Vielfalt ist Wahrheit.

Wir sollten niemals vergessen, dass wir
alle verschiedene Wesen sind ...[Seite 303]

[1] Richmond Alexander Lattimore (1906-1984, US-Poet): "Themes in Greek and Latin Epitaphs"
The University of Illinois Press (Urbana) 1962, S.174

[2] George Santayana - eigentlich Jorge Augustín Nicolás Ruiz de Santayana (1863-1952, Philosoph,
Schriftsteller, Literaturkritiker spanischer Herkunft): "Realms of Being" (Bereich des Möglichen)
New york: Scribners 1941





"Herzversagen"
Seite 199

..."Das älteste Herz ... taucht in den uralten ägyptischen Mythen auf: das Herz des Ptah
[Petach, Der Bildner], der die Welt durch die Imagination seines Herzens erschuf.

Alles, was uns umgibt, und auch wir selbst, hat seinen Ursprung im Herzen Ptahs
und nimmt kraft seiner Rede Gestalt an.

Das Neue Testament - "Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott" -
vertritt die gleiche Idee, nur dass Worte für das alte Ägypten vom Herzen ausgingen
und dessen Kraft der Imagination zum Ausdruck brachten.
Die Welt wurde zuerst imaginiert, dann erklärt.

Laut der einflussreichen islamischen Philosophie von Ibn Arabi (gest. 1240)
ist Imagination - die Fähigkeit, Dinge als Bilder zu sehen - eine Fähigkeit des Herzens.

Sämtliche Gestalten, die unsere Imagination heimsuchen, jenes unsichtbare Volk von Engeln und Dämonen,
Geistern und Ahnen, denen wir nachts im Schlaf begegnen und mit denen wir in unseren Träumen sprechen,
werden nur für das erwachte Herz zur lebendigen Wirklichkeit. Ansonsten halten wir sie für Erfindungen,
Projektionen und Phantasien.

Dieses imaginierende Herz verwandelt so Undefinierbares wie Seele, Tiefe, Schönheit, Würde, Liebe
- und auch den Charakter und die Vorstellung vom "Herzen" selbst - in fühlbare Gegebenheiten,
die Grundessenz des Lebens.

Ohne dieses Herz existiert im Käfig unseres Brustkorbs nur Harveys Pumpe [1],
die uns am Laufen halten soll ...

[1] William Harvey (1578-1657), englischer Arzt und Anatom,
1628 Entdeckung des Blutkreislaufs,
Wegbereiter der modernen Physiologie

Aus: „Vom Sinn des langen Lebens – Wir werden, was wir sind“ dtv 2004
James Hillman (1926-2011, USA, Jungscher Psychoanalytiker)
(The Force of Character. And the Lasting Life 1999)