Ich wünsche dir Zeit

Ich wünsche dir
nicht alle möglichen Gaben.


Ich wünsche dir nur,
was die meisten nicht haben:


Ich wünsche dir Zeit,
dich zu freun und zu lachen,
und wenn du sie nützt,
kannst du etwas draus machen.


Ich wünsche dir Zeit
für dein Tun und dein Denken,
nicht nur für dich selbst,
sondern auch zum Verschenken.


Ich wünsche dir Zeit,
nicht zum Hasten und Rennen,
sondern die Zeit zum Zufriedenseinkönnen.

Ich wünsche dir Zeit,
nicht nur so zum Vertreiben.


Ich wünsche,
sie möge dir übrigbleiben
als Zeit für das Staunen und Zeit für Vertraun,
anstatt nach der Zeit auf der Uhr nur zu schaun.


Ich wünsche dir Zeit,
nach den Sternen zu greifen,
und Zeit, um zu wachsen,
das heißt, um zu reifen.


Ich wünsche dir Zeit,
neu zu hoffen, zu lieben.


Es hat keinen Sinn,
diese Zeit zu verschieben.


Ich wünsche dir Zeit,
zu dir selber zu finden,
jeden Tag, jede Stunde
als Glück zu empfinden.


Ich wünsche dir Zeit,
auch um Schuld zu vergeben.


Ich wünsche dir:
Zeit zu haben zum Leben!

Elli Michler
(b. 1923 in Würzburg)
Deutsche Lyrikerin, Diplom-Volkswirtin und Mutter.
Lebt heute in Bad Homburg vor der Höhe/Hessen.
Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Staatswissenschaften.
Freie schriftstellerische Tätigkeit für Zeitschriften und Rundfunk.




Ich wünsche dir Stille

Ich wünsche dir Stille,
denn dein Tag ist zu laut,
und sein Lärm bringt dir Pein.

Es gelingt dir nicht mehr,
bei dir selber zu sein.

Ich wünsche dir Stille.

Weißt du noch, was das ist?

Lass es nicht so weit kommen,
dass du die Stille schon
nicht mehr vermisst!

Ich wünsche dir Stille,
um Kraft zu behalten,
um innezuhalten, um Atem zu holen,
muss Schweigen walten.

Ich wünsche dir Stille,
bevor dich das Treiben der Welt
taub und stumpf gemacht hat,
geh hinaus in den Wald
und verlasse die Stadt
oder schließe dich ein,
bis die Stille dein eigen.

Hat der Tag dich geschunden,
hilft dir Einkehr im Schweigen.

Nur die Stille allein
lässt dich wieder gesunden!




Zu einem Mönch kamen eines Tages Menschen und fragten ihn:

"Was für einen Sinn siehst du in deinem Leben der Stille?"


Der Mönch war eben beschäftigt mit dem Schöpfen von Wasser
aus einer tiefen Zisterne und sprach zu seinen Besuchern:


"Schaut in die Zisterne - was seht ihr?"


Die Leute blickten in die tiefe Zisterne:

"Wir sehen nichts!"


Nach einer kurzen Weile forderte der Mönch die Leute erneut auf:

"Schaut noch einmal in die Zisterne - was seht Ihr jetzt?"


Die Leute blickten erneut hinunter:

"Ja, jetzt sehen wir uns selbst!"


Der Einsiedler sprach:

"Schaut, als ich vorhin Wasser schöpfte,
war das Wasser unruhig.

Jetzt ist das Wasser ruhig.


Das ist die Erfahrung der Stille -
man sieht sich selber!"