Günther
Loewit
(b.1958)
Österreichischer Arzt, Autor
Billigpflege und
Hochpreismedizin
Buch: „Wie viel Medizin überlebt der
Mensch?“ Kapitel: Das Notwendige und das Mögliche.
Billigpflege und Hochpreismedizin. Seite 211-221. HAYMON 2.Auflkage 2013.
"Die Überalterung unserer Gesellschaft dank der modernen Medizin
verursacht nicht nur Probleme im Pensionssystem,
sondern auch ein weiteres, fast unlösbares Problem: Wer wird die immer älter
und kränker werdende Bevölkerung pflegen?
Siehe dazu: www.pensionsversicherung.at
www.neuespensionskonto.at
Nach einer Meldung der Agentur Reuters stimmt die Regierung
Deutschlands die Bevölkerung auf höhere Beiträge zur
Pflegeversicherung ein: "Die zunehmende Zahl Pflegebedürftiger führt dazu,
dass die Leistung der Pflegeversicherung
ohne Erhöhung der Beiträge nicht mehr darstellbar ist." (Fraktionschef
Volker Kauder, CDU).
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich kann schon seit längerer Zeit von
einem "Pflegenotstand" gesprochen werden,
dessen Grund einzig und allein unsere immer längere Lebenserwartung ist. Die
"Financial Times Deutschland" berichtet, dass
im Jahr 2025 allein in Deutschland geschätzte 152.000 Alten- und Krankenpfleger
fehlen werden. Die Situation im kleinen
Österreich stellt sich nicht besser dar: Schon jetzt können nicht alle Stellen
im Pflegebereich besetzt werden. Allein von 2008
bis 2010 entstanden ca. 6000 neue Pflegestellen in Krankenhäusern, Alten- und
Pflegeheimen. Schätzungen gehen davon
aus, dass sich die Zahl der Pflegegeldbezieher in den nächsten 25 Jahren
verdoppeln wird. Schon heute tobt ein heftiger
Streit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden über die Finanzierbarkeit des
Pflegegeldes.
Experten weisen darauf hin, dass die klaffende Lücke in der Altenversorgung
schon jetzt kaum noch mit ausländischen Arbeitskräften
zu schließen wäre. Aber erstens wird mit steigendem Wohlstand auch in den
Ländern des ehemaligen Ostblocks das dortige Pflege-
personal in den eigenen Staaten benötigt werden, und zweitens werden
Mindestlöhne und unzumutbare Arbeitsbedingungen auf Dauer
zu wenig Anreiz sein, um eine kranke, greise und rund um die Uhr
pflegebedürftige Gesellschaft in den Tod zu begleiten.
Doch die Pflege von Alten und Kranken überfordert unsere Gesellschaft nicht nur
in finanzieller Hinsicht,
sie überfordert auch menschlich in zunehmenden Maß.
Im Frühjahr des Jahres
1989 hört ein Arzt in einem Wiener Kaffeehaus unbeabsichtigterweise ein Gespräch
mit, das vier Frauen an einem der
Nachbartische führen. Später wird sich herausstellen, dass die
Kaffeehausbesucherinnen Stationsgehilfinnen des städtischen Pflegeheims Lainz
sind.
In der Unterhaltung sprechen die vier Frauen ungeniert und belustigt darüber,
wie sie alte Menschen umgebracht haben. Zunächst glaubt der unfei-
willige Zuhörer an einen Streich, den ihm seine Sinne spielen würden. Doch als
die Frauen dann auch noch beginnen, die Opfer zu verhöhnen, wird ihm
bewusst, dass er soeben Kenntnis über ein schreckliches Verbrechen erlangt hat.
Auch über die, die als nächste an der Reihe wären, wird am Nachbartisch
angeregt geredet, über "Fahrkarten in den Tode", die zu vergeben wären. Der
entsetzte Arzt erstattet Anzeige.
Die einsetzenden Untersuchungen sollten einen der größten Skandale in der
Nachkriegsgeschichte Österreichs zu Tage fördern. Die vier Stationsgehilfinnen
werden zunächst beurlaubt, später auch verhaftet. Etliche Leichen von im
Pflegeheim Lainz verstorbenen Patienten werden exhumiert und gerichtsmedizinisch
untersucht. Dabei wird bei allen Leichen eine unübliche Häufung von Wasser im
Lungengewebe festgestellt. Damit konnte aber eine Ermordung der Patienten
noch nicht zwingend bewiesen werden. Als jedoch tödliche Dosen von Insulin und
die Rückstände der Schlaftablette Rohypnol nachgewiesen werden konnten,
wurden die Stationsgehilfinnen eine nach der anderen des vielfachen Mordes an
den ihnen anvertrauten Patienten überführt.
Im Prozess wurden dann Details der Tötung bekannt: So habe eine Pflegerin den
Kopf des Opfers angehoben und die Nase zusammengedrückt, während
die andere die Zunge fixierte und so lange Wasser in den Hals einflößte, bis das
sich heftig wehrende Opfer gestorben sei. Diese Methode der Ermordung
wurde von den Stationsgehilfinnen als "Mundhygiene" bezeichnet. Alleine bei
einer der Täterinnen hielt das Gericht 32 Morde für erwiesen.
Siehe dazu: DER SPIEGEL 11/1991
www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488531.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Todesengel_von_Lainz
Gewalt in Spitälern und Pflegeheimen gibt es nicht erst seit den Geschehnissen
von Lainz. Vor allem in psychiatrischen Kliniken
und in Altenpflegeeinrichtungen kommt es überdurchschnittlich oft zur Anwendung
von Gewalt.
Allerdings sind es in der Regel die Angehörigen von Pflegeberufen, die von
aufgebrachten Patienten angeschrieen und auch geschlagen werden.
Wenn man einer Studie, die über 380.000 Pflegetage analysiert hat, glauben darf,
so werden vor allem im Bereich der Geriatrie, also der Altenpflege,
zwei Drittel der Pflegekräfte regelmäßig von Patienten oder deren Angehörigen
körperlich angegriffen. Ein interessantes Thema außerhalb der öffent-
lichen Wahrnehmung. Aggressionen in Krankenanstalten und Pflegeeinrichtungen
sind zwar nicht grundsätzlich neu, ihre deutliche Zunahme aber
sehr wohl. Welche Auseinandersetzung wird da abseits der Worte geführt? Gibt
es, neben der zunehmenden Gewaltbereitschaft junger Menschen,
auch eine neue Brutalität alter Menschen? Gibt es einen heimlichen Krieg
zwischen Jung und alt? Erleben wir gerade den Anfang eines neuen
Konfliktes zwischen den verschiedenen Altersgruppen innerhalb der Gesellschaft?
In jedem Fall ist die psychische Belastung, die ein Pflegeberuf mit sich bringt,
unbestreitbar, und es ist nicht überraschend, dass die Angehörigen
von Pflegeberufen überdurchschnittlich häufig von Burnout-Syndrom und
Depressionen betroffen sind. Denn im Vergleich zur Pflege etwa eines
Säuglings ist die Pflege einer greisen und kranken Bevölkerung mit weit weniger
Freude verbunden. Während ein Baby wächst, isst, zu lächeln
beginnt, gehen und sprechen lernt, kurzum zu einem nicht mehr pflegebedürftigen
Menschen heranreift, verläuft die Entwicklung des alten
Menschen mit "tödlicher Sicherheit" in die umgekehrte Richtung. Denn am Ende der
Altenpflege und aller mit ihr einhergehenden Prozesse
steht immer der Tod.
Von Politikern vieler Länder wird in Anbetracht des zunehmenden Mangels an
Pflegekräften sowohl eine Aufwertung des Berufs, als auch eine
Aufstockung der Arbeitsstunden hin zu Vollzeitjobs gefordert. Auf die Frage, wie
Pflege als Vollzeitjob psychisch unbeschadet überstanden werden soll,
können Politiker keine Antwort geben, weil sie schlichtweg keine Ahnung von den
Herausforderungen der 24-Stunden-Pflege haben - zu viele Theoretiker
entscheiden
von ihren der Realität entrückten Schreibtischen aus. Auch die von der Politik
geäußerte Idee, den Beruf des Altenpflegers zu akademisieren
und damit höherwertig darzustellen, klingt eher naiv. Denn was soll eine
akademische Ausbildung beim Füttern, An- und Entkleiden, Baden und
Windelwechseln helfen? Wie sollen die Gerüche und Geräusche siechender Greise
durch einen akademischen Grad erträglicher gemacht werden?
Und warum, wenn man den Gedanken fortspinnen wollte, gibt es nicht schon längst
akademische Titel für Mütter und Väter kleiner Kinder?
Die Wahrheit ist:
Die Politik hat bislang keinen Plan, was mit den
Errungenschaften des Wohlstands und den Opfern moderner Medizin
zu geschehen hat. Wie all die jahrhundertelang unbekannten Sorgen wahrgenommen,
behandelt und gelöst werden sollen.
Hauptsache, das oberste Ziel des Gesundheitssystems bleibt unreflektiert und
unangetastet. Nämlich, dass einzig und alleine
die Dauer des Lebens das Maß aller Überlegungen bleibt, und nicht die
Qualität dieses Lebens.
Ein 78-jähriger Patient erleidet
einen Schlaganfall. Es ist 2 Uhr morgens. Irgendwann erwacht seine Frau, seine
eigenartigen, unregelmäßigen Atemgeräusche
beunruhigen sie. Sie berührt ihren Mann, aber er rührt sich nicht. Sie schüttelt
ihn und ruft laut seinen Namen, aber er reagiert nicht. Seine Atemzüge werden
immer
weniger und setzen zum Teil aus. Sie gerät in Panik und ruft ihre Tochter an. In
wirren Sätzen berichtet sie ihr, was geschehen ist. Erst die Tochter fasst den
klaren
Gedanken, bei der Rettungsleitstelle anzurufen. Zu diesem Zeitpunkt atmet der
Mann kaum noch. Namen, Versicherung, Vorerkrankungen, genaue Beschreibung des
Vorgefallenen. ("Ich weiß es nicht, ich bin die Tochter und rufe nicht von zu
hause aus an.") 45 Minuten später kommt der Notarzt. Der Patient hat aufgehört
zu atmen.
Sofort werden Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet. Blaulicht vor dem Haus,
Herzmassage, Intubation und Beatmung, venöse Zugänge werden gelegt, eine
Infusion
angehängt - das Schlafzimmer ist viel zu klein für den Auftritt der modernen
Notfallmedizin. Nach 15 weiteren Minuten gelingt es tatsächlich, wieder einen
Herzschlag
herzustellen. Die aufgelöst auf und ab laufende Ehefrau des Patienten freut sich
besonders über die unregelmäßigen Zacken am Monitor. Später im Spital wird eine
Gehirnblutung diagnostiziert. Eine erste Notoperation in den frühen
Morgenstunden kann zwar die Blutung stoppen, der Patient verbleibt aber im Koma
und muss weiter
künstlich beatmet werden. Ein Kontroll-CT am Nachmittag zeigt, dass sich erneut
ein Gerinnsel im Gehirn gebildet hat. Und noch während die Ärzte die weitere
Vorgangs-
weise überlegen, verstirbt der Patient erneut. Wieder wird er wiederbelebt und
sofort einer neuerlichen Operation unterzogen. Diesmal ist der Erfolg des
Eingriffs etwas
zufriedenstellender. Der Patient bleibt zwar im Koma, beginnt
aber zeitweise von selbst zu atmen. Nach drei Wochen Intensivstation kann der
Mann auf die normale
Bettenstation verlegt werden. Er atmet zu diesem Zeitpunkt aus eigener Kraft
durch eine Kanüle im Hals. alle 10 bis 15 Minuten muss der Schleim aus der
Luftröhre
abgesaugt werden, damit der Patient nicht erstickt. Die notwendige Nahrung wird
über eine Magensonde zugeführt, weil der Patient nicht mehr schlucken kann.
Er reagiert weder auf Geräusche, noch auf Berührung. Aber er lebt. Der Familie
wird eine weitere Besserung versprochen. Nach weiteren drei Wochen Physio-
und Ergotherapie drängt das Spital auf eine rasche Entlassung ("Wir können hier
nichts mehr für Ihren Mann tun."). Im Arztbrief heißt es wörtlich: "In
zufrieden-
stellendem Zustand". Dabei kann der Mann weder sprechen, noch essen, noch
trinken, er reagiert lediglich auf Geräusche in seiner Umgebung. Ob er den
Inhalt
des Gesagten versteht, kann auch von den behandelnden Neurologen nicht
festgestellt werden. Völlig außerstande, die notwendige 24-Stunden-Pflege zu
hause
durchzuführen, suchen Gattin und Tochter unter enormem Zeitdruck einen Heimplatz
für den pflegebedürftigen Vater. Im schließlich gefundenen Pflegeheim ent-
spannt sich die Situation zum ersten Mal seit dem schrecklichen Schlaganfall.
Allerdings spitzt sich nach einigen Monaten die finanzielle Situation der
Familie zu.
Denn trotz Zuerkennung der höchsten Pflegegeldstufe können die teuren Therapien
und die anfallenden Heimkosten nicht abgedeckt werden. Der Verkauf des
Einfamilienhauses steht plötzlich zur Diskussion. Die Gattin des Patienten ist
völlig verzweifelt und schlittert, ohnehin mit der Situation überfordert, in
eine schwere
Depression. Die Tochter kümmert sich neben ihrem Beruf von nun an auch um die
Arztbesuche der Mutter. Sie will das Elternhaus auf keinen Fall verkaufen und
sagt
immer wieder zur Mutter: "Du musst jetzt stark sein!". Die verordneten
Antidepressiva helfen und der Vorschlag der Tochter, den Vater von nun an zu
Hause weiter-
zupflegen und das Haus zu behalten, wird von der Mutter nicht mehr kategorisch
abgelehnt. Allen Beteiligten ist klar, dass die 77-jährige Frau nicht imstande
sein
würde, den Pflegeaufwand alleine zu bewältigen. Zu diesem Zeitpunkt muss der
Patient vier- bis fünfmal am Tag umgelagert und dabei frisch gewickelt werden.
Weit schlimmer sind noch seine häufigen Hustenanfälle und die mit ihnen
verbundene Notwendigkeit einer sofortigen Luftröhrenabsaugung. Der Patient macht
schon
lange keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht. Ihn länger als drei
Minuten unbeaufsichtigt zu lassen, könnte seinen Tod bedeuten, weil er am
eigenen
Schleim ersticken würde. Ohne die permanente Hilfe einer
24-Stunden-Hilfspflegekraft würde die häusliche Versorgung nicht möglich sein.
Die Familie nimmt Kontakt zu einer Agentur auf, die sich auf die Vermittlung
billiger slowakischer Pflegehelferinnen spezialisiert hat. Ein Mann mit
deutlichem
Akzent und bis zur Brust geöffnetem Hemd kommt ins Haus, um sich ein Bild von
der Lage zu machen. Zunächst drückt er der verzweifelten Gattin und der
skeptischen
Tochter in geschliffenen Worten sein Mitgefühl aus. "Ja, leider kann uns allen
immer so etwas passieren ... unsere Aufgabe ist, Ihnen jetzt zu helfen ..." Ohne
darum gebeten
worden zu sein, beginnt er einen Rundgang durch das Haus und mustert Einrichtung
und Bilder an der Wand. Dann setzt er sich zum Küchentisch und öffnet eine Mappe
mit
Bildern von Frauen, die zur Pflege bereit wären. Er beschreibt die jeweiligen
Vorzüge der abgebildeten Frauen, insbesondere Vorerfahrung mit schweren
Pflegefällen,
Deutschkenntnisse oder gar medizinische Ausbildungen. Selbstsicher berechnet er
die monatlich anfallenden Kosten, seine eigene Provisionsgebühr miteingerechnet.
Er
verschweigt, dass die pflegewilligen Frauen auch noch eine monatliche
Vermittlungsgebühr direkt an ihn zu entrichten haben. Weder Gattin noch Tochter
wagen ihn zu
unterbrechen oder das Vorgeschlagene in Frage zu stellen. Zu dringend wird die
Hilfe aus dem Ausland benötigt. In Österreich selbst ist niemand bereit, um den
Tarif
der slowakischen Helferinnen 24 Stunden täglich zu arbeiten. Zwei Damen mit
angeblich hervorragenden Deutschkenntnissen und ausreichend Erfahrung im Umgang
mit
Intensivpatienten werden ausgesucht. Es wird vereinbart, dass sie sich in
14-tägigen Abständen abwechseln und gemeinsam mit der Gattin des Patienten
dessen weitere
Versorgung sicherstellen. Aber schon bei der ersten Helferin entsprechen weder
die Deutschkenntnisse noch die angepriesene medizinische Ausbildung dem
versproch-
enen Standard. Außerdem leidet die junge Frau unter schrecklichem Heimweh und
redet in stark gebrochenem Deutsch andauernd von ihren beiden Kindern, die von
der
Schwiegermutter während ihrer Abwesenheit nur schlecht versorgt würden. Nach
fünf Tagen und fünf Nächten fährt sie völlig unvermittelt mit dem Zug zurück in
die
Slowakei. Erneut verfällt die Frau des Patienten in Panik. Die Tochter nimmt
sich Urlaub und hilft der erschöpften Mutter. Immerhin treibt der Herr von der
Agentur aber
umgehend Ersatz auf. Diesmal klappt es besser. Die Frau bleibt den vollen
14-tägigen Turnus, ehe sie von einer Kollegin abgelöst wird. Aber schon in ihrem
zweiten Dienst-
rad beschwert sie sich immer öfter über die harte Arbeit. Denn der Patient muss
auch während der Nacht in regelmäßigen Abständen abgesaugt werden. Sowohl die
Helferin,
als auch die Ehefrau sind völlig überfordert. "Verbessern Sie mich nicht
dauernd", sagt die slowakische Helferin, wenn sie von der Frau des bettlägrigen
Patienten wieder
einmal darauf aufmerksam gemacht wird, dass sie den Sauger falsch abgewischt
hat. "Sie sind faul", fällt einmal um drei Uhr in der Nacht. "Ich werde für
diese Arbeit nicht
gut bezahlt", ist die Antwort. Nach dem dritten Dienstrad trennt man sich
wieder. Der Herr mit der Mappe wird ungehalten. "Wenn Sie sich nicht helfen
lassen, können wir von
der Agentur auch nicht mehr helfen." Verzweifelt versuchen Tochter und Gattin
den zunehmend verfallende Patienten in einem Krankenhaus unterzubringen.
Wenigstens für
ein paar Tage. Aber sie bekommen nur Absagen. Denn leider sei der sondenernährte
Patient ein reiner Pflegefall und habe daher in einer Krankenanstalt nichts
verloren.
Die Betten würden dringend für heilbare Patienten benötigt. Also muss zu Hause
weitergepflegt werden.
Vereinfacht
ausgedrückt könnte man sagen, dass der Fortschritt in der Medizin eine neue
Gattung von Patienten
geformt hat. Nämlich jene, die nicht mehr geheilt, aber doch noch am Leben
gehalten werden können.
Fälle wie der oben beschriebene
Patient mit dem Schlaganfall werden in den einschlägigen Statistiken als
"geheilt" geführt,
da ja die Blutung im Kopf tatsächlich gestoppt werden konnte. Dieses Ziel hat
die Neurochirurgie erreicht, ohne das Leben
des Mannes zu verlieren. Dass er nach den beiden
Interventionen für über drei Jahre ein reiner Pflegefall wurde,
scheint in der neurochirurgischen Statistik nicht auf.
Im Gegenteil:
Einem neuen Patienten mit ähnlichem Schicksal - oder vielmehr seinen Angehörigen
-
würde man im Notfall mit eben dieser geschönten Statistik zu überzeugen
versuchen, sich derselben
Behandlung zu unterziehen. Und so lange die Herzen schlagen, können Opfer der
modernen Medizin mittels
einer Magensonde ernährt und fast beliebig am Leben erhalten werden. Infekte
werden antibiotisch behandelt,
ein Wundliegen durch entsprechende Prophylaxe weitgehend verhindert. Lungen
können auch zu Hause
abgesaugt, Luftröhrenkanülen durch ambulante Schwestern und mobile
Palliativteams gewechselt werden.
Niemand spricht über das Leid der Pflegenden. Niemand spricht über die Sorgen
von tausenden auseinander-
gerissenen slowakischen, tschechischen oder rumänischen Familien. Von Kindern,
die ohne ihre Mütter auskommen
müssen, weil die - in einer modernen Form des Sklavenhandels - zu günstigem
Preis die Errungenschaften
einer höheren Lebenserwartung im gelobten Westen pflegen. selbst ausgenützt und
ausgebeutet.
Wann werden wir selbst wieder die Verantwortung für
unseren Traum vom ewigen Leben übernehmen?
Angesprochen ist nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch jeder
Einzelne, der es als verbrieftes Recht
sieht, sich auch noch im höchsten Alter medizinisch runderneuern und behandeln
zu lassen.
Wie wäre es sonst zu erklären, dass an einem
sommerlichen Montagnachmittag im Juli 2012 ein 88-jähriger Patient
mit dem Hubschrauber unter laufenden Wiederbelebungsmaßnahmen von einem
Pflegeheim zur weitern
intensivmedizinischen Behandlung ins nahe gelegene Schwerpunktkrankenhaus
geflogen wird,
wo er dann doch verstirbt?
Aus: Günther Loewit: „Wie viel Medizin überlebt der
Mensch?“ Kapitel: Das Notwendige und das Mögliche.
Billigpflege und Hochpreismedizin. Seite 211-221. HAYMON 2.Auflkage 2013.
www.guenther-loewit.at