Vorsorge. Eine Flut von Gesundheitschecks, neue
Risikofaktoren, immer niedriger angesetzte Grenzwerte.
Bald gilt jeder Gesunde als krank. Nicht zum Wohle der Menschen, aber im Sinne
der Pharmaindustrie.
Von Profil Autor Bert Ehgartner (b.1962).
Profil Nr. 15, 41. Jg, 12. April 2010.
www.profil.at/articles/1014/560/266158/wenn-aerzte-die-folgen-gesundheitswahns
Der Arzt liest die Zahlen vom Blutdruckgerät: „165 zu 100“ – und
murmelt dazu „viel zu hoch!“.
Für die 70-jährige Pensionistin Maria Klein* bedeutet dies, dass sie sich ab
sofort wieder an eine neue Pille
gewöhnen muss. Es ist nun bereits das zweite Blutdruckmedikament, das sie
täglich einnehmen soll.
Sie fragt den Arzt, wie lange sie das Mittel benötige. Und die Antwort lautet –
nicht gerade im optimistischsten Tonfall: „Bis sich endlich etwas tut!“
* Name von der Reaktion geändert
Vor nicht allzu langer Zeit lautete die Faustregel beim Blutdruck noch „Lebensalter
plus 100“.
Da wäre Frau Klein mit ihrem Wert gut im Referenzbereich gelegen. Doch die
Zeiten ändern sich.
Die Grenzwerte purzeln generell in immer tiefere Regionen. Nicht nur für ältere
Menschen erscheint es zunehmend unmöglich, im „grünen Bereich“ zu bleiben. Im
Lauf des Lebens summieren sich die Dauermedikamente wie Jahresringe. „Gesund
ist nur, wer noch nicht ordentlich untersucht worden ist“ – nie war dieser
Kalauer (Wortspiel) realitätsnäher. 65-Jährige haben im Schnitt heute drei
chronische Krankheiten. Auch für die Jüngeren wird das Fangnetz immer
dichter geknüpft, bis schließlich kaum noch jemand durch die Maschen schlüpft.
Wie dramatisch die Lage ist, zeigte kürzlich ein isländisch-norwegisches
Forscherteam am Beispiel der Europäischen Leitlinien zur Behandlung des
Bluthochdrucks. Diese sind seit 2007 offiziell in Kraft, wurden von
ausgewählten Experten der europäischen Kardiologie- und Hypertonie-Gesellschaft
erstellt, in zahlreichen Konferenzen diskutiert und abgestimmt. Man sollte also
annehmen, dass die Konsequenzen ihrer Umsetzung in die tägliche ärztliche Praxis
bekannt wären und zum Wohl und zur Gesundheit der Europäer beitragen.
Umso größer war die Überraschung, als die Wissenschafter die Leitlinien einfach
einmal anwandten – und zwar auf Norwegen, eines der reichsten Länder der Welt
mit bekannt gesunden und langlebigen Bewohnern. Für ihr Experiment verwendeten
die Forscher ein repräsentatives Modell der norwegischen Bevölkerung, das aus
den Gesundheitsdaten von mehr als 50.000 Personen gespeist wurde.
Das Ergebnis: Drei von vier
Nordländern im Alter zwischen 20 und 89 Jahren erwiesen sich nach den strengen
Richtlinien als dringend behandlungsbedürftig oder benötigten zumindest ein
engmaschiges Netz regelmäßiger ärztlicher Kontrollen. Besonders marod zeigte
sich die Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen, wo sogar 99 Prozent der
Bevölkerung klinischer Aufmerksamkeit bedurften, um die weitere Entwicklung
ihres Herz-Risiko-Profils zu überwachen und in eine günstigere Richtung zu
dirigieren. Nun kamen neben dem Blutdruck auch noch andere Risikofaktoren ins
Spiel: allen voran die Blutfette, der Blutzucker und das Übergewicht. Im Schnitt
ergäben sich laut Studie für jeden Erwachsenen drei zusätzliche Arztbesuche pro
Jahr.
Damit die Mediziner diesen Ansturm bewältigen könnten, müsste die Zahl der Ärzte
– allein zur Umsetzung der Blutdruck-Leitlinie – mehr als verdoppelt werden.
Rechnet man dazu noch die Kosten für die Unzahl an Laborbefunden,
Verschreibungen und Folgetherapien in das Szenario mit ein, stünde das
norwegische Gesundheitssystem mit einem Schlag am Rande des Ruins, warnen die
Autoren der Studie – nicht ohne die Blutdruck- und Herzexperten gehörig zu
rüffeln:
„Unserer Ansicht nach kann eine derartig weitreichende
Vorsorge-Maßnahme nur dann als wissenschaftsbasiert angesehen werden, wenn auch
die Konsequenzen ihrer Umsetzung offen diskutiert und transparent gemacht
werden.“
Verkrankung. Nun scheint es kaum denkbar, dass die Urheber der
EU-Leitlinien nicht wussten, dass weit mehr als die Hälfte der Europäer Werte
hat, die über die als „normal“ definierte Spanne von 120–129 Millimeter
Quecksilbersäule (mmHg) beim systolischen beziehungsweise 80 bis 84 mmHg beim
diastolischen Blutdruck deutlich hinausgehen. War es also Absicht?
Den Takt geben zumeist die Amerikaner vor – nicht nur beim Blutdruck. Mit
der Absenkung des Blutzuckergrenzwerts von 110 Milligramm pro Deziliter Blut
(mg/dl) auf 100 mg/dl wurde die Zahl der Diabetiker in den USA im Jahr 2003 mit
einem Schlag von vier auf 30 Millionen erhöht. Ein Jahr später übernahm auch
Europa diesen Wert. Nun diskutieren die Fachgesellschaften bereits, ob eine
erneute Senkung des Grenzwerts auf 95 mg/dl angebracht wäre.
Beim Cholesterin ist es kaum noch möglich, die Grenzwerte weiter abzusenken.
Hier gilt bereits seit Mitte der achtziger Jahre ein oberes Limit von 200 mg/dl.
Dies erscheint in einem besonders originellen Licht, wenn man weiß, dass der
Durchschnittswert bei 40-jährigen Frauen in Österreich bei etwa 220 mg/dl liegt,
bei Männern sogar bei 235 mg/dl. Im Alter von etwa 60 Jahren gleichen sich die
Geschlechter bei 245 mg/dl an. Erst gegen Lebensende fällt der Wert rapide ab.
Eigentlich wäre es demnach wesentlich rationaler, sich vor einem Absinken des
Cholesterinspiegels zu fürchten. Die Überlegungen gehen dennoch in die
Gegenrichtung. „Derzeit wird über eine Absenkung auf 180 mg/dl geredet“, sagt
Martin Sprenger, Arzt und Gesundheitsexperte der Medizinischen Universität Graz.
Dahinter stecke laut Sprenger durchaus Kalkül. Geld verdient werde nämlich nicht
mit Medikamenten für den Akutbedarf, etwa für eine nach wenigen Tagen
abgeschlossene Antibiotikabehandlung, sondern mit Dauermedikamenten, die
möglichst ein restliches Leben lang täglich genommen werden. „Derzeit halten wir
hier bei einem Anteil von 70 bis 80 Prozent“, sagt Sprenger. „Und die Industrie
versucht, diesen Markt immer weiter auszureizen.“ Die Behandlung von stark
erhöhtem Blutdruck bringe einen großen Nutzen, erklärt Sprenger.
Allerdings sei hier der Markt relativ klein. „Je niedriger die Grenzwerte
gezogen werden, desto größer wird der Markt. Umso kleiner wird allerdings der
Nutzen, den ein Medikament für den einzelnen Menschen bringt.“
Weitere Hilfsmittel bei der Eroberung des Markts sind die immer zahlreicher
werdenden Risikofaktoren, bestimmte Entzündungswerte, die Knochendichte sowie
ein Mangel an Vitaminen, Eisen oder anderen Spurenelementen.
Relativ neu am Markt ist das Modell der hochpreisigen Impfungen, die als eine
Art Versicherungspolizze für eine gesunde Zukunft verkauft werden.
Eine besonders perfide Strategie, sagt Sprenger, werde mit neuen Tests, etwa auf
ein vererbtes Risiko, verfolgt.
Wer mit 36 Jahren erfährt, dass er beispielsweise ein genetisch bedingtes
erhöhtes Alzheimer- oder Krebsrisiko hat, gehört damit ab sofort zur Gruppe der
so genannten „worried well“, der „besorgten Gesunden“. Diesen Personen wird
daraufhin ein Maßnahmenkatalog mit regelmäßigen Tests oder vorbeugenden
Produkten angeboten. „Über einen genetischen Test können somit viele Menschen,
die vollständig gesund sind, zu Konsumenten von fragwürdigen
Gesundheitsleistungen gemacht werden.“
Das Absenken der meisten Grenzwerte auf das Niveau von topfitten Jugendlichen
führt dazu, dass beim Gesundheitscheck oder der Vorsorgeuntersuchung bei fast
jedem Menschen irgendein Wert im roten Bereich liegt. Nach einer Logik, die der
Pickerlüberprüfung von Pkws nachempfunden scheint, wird dann versucht, die
Messwerte wieder in den Normbereich zu bringen. Zunächst mit allgemeinen
Empfehlungen zum Abnehmen, zur gesunden Ernährung oder zur Bewegung, aber rasch
auch mit pharmazeutischen Hilfsmitteln.
Immer häufiger zeigte sich in den vergangenen Jahren jedoch, dass das Prinzip
des Autoservice doch nicht so einfach übernommen werden kann.
Speziell bei
chronisch Kranken hat die Abweichung von der Norm auch eine biologisch sinnvolle
Funktion. Ein höherer Blutdruck ermöglicht es beispielsweise, die
Sauerstoffversorgung entlegener Regionen im Körper aufrechtzuhalten oder auch
das Herz ausreichend zu versorgen, wenn Gefäßschäden bereits fortgeschritten
sind. Zudem hat er den Zweck, die Durchflussgeschwindigkeit der Nieren zu
erhöhen, sobald dies den internen Schadstoffkontrolloren nötig erscheint.
Überschuss. Ein erhöhter Zuckerwert
zeigt jedenfalls an, dass mehr Zucker über die Nahrung zugeführt wird, als der
Organismus benötigt. Wenn dieser über Medikamente oder von außen zugeführtes
Insulin „verwertet“ wird, so geschieht dies gegen die ursprüngliche Absicht der
Stoffwechselregulatoren. „Stellen Sie sich einen Gesundheitspolitiker vor, der
sagt: ,Für einen Typ-2-Diabetiker brauchen wir eigentlich keine Medikamente,
sondern vor allem Disziplin“, erklärt Christian Euler, Präsident des
Österreichischen Hausärzteverbands. „Es gibt gute Argumente für so eine
Sichtweise. Aber den Mut, das öffentlich zu sagen, bringt niemand auf.“
Tatsächlich erwies sich die gebetsmühlenartig wiederholte Botschaft, dass es für
die Gesundheit der Diabetiker am wichtigsten sei, wenn sie „gut eingestellt“
werden, immer deutlicher als Werbebotschaft der Industrie. Eine ganze Reihe von
Studien zeigte nämlich, dass bei besonders gut eingestellten Diabetikern mit zu
niedrigen Zielwerten das Risiko der Unterzuckerung ansteigt, was deren Sterbe-
und Demenzrisiko dramatisch erhöht. „Die Ärzte haben als Advokaten ihrer
Patienten versagt“, kritisiert der Grazer Diabetesexperte Thomas Pieber die
allzu späte Einsicht seiner Zunft. „Sie hätten warnen und hinterfragen müssen –
und nicht alles willfährig übernehmen, was ihnen von der Industrie vorgelegt
wird.“
Auch bei dem aus den 1980er Jahren stammenden Dogma vom „bösen“ Cholesterin, das
über die Nahrung aufgenommen wird und den Körper vergiftet, wächst die Kritik.
Wie eigenartig dieser Ansatz von Anfang an war,
zeigt die Tatsache, dass der Organismus etwa 90 Prozent des benötigten
Cholesterins selbst herstellt und nur ein kleiner Teil des in der Nahrung
enthaltenen Cholesterins überhaupt genutzt wird. Der Rest wird einfach
ausgeschieden.
Noch dazu ist Cholesterin für uns schlicht überlebenswichtig. Es ist Bestandteil
der Außenmembran jeder Zelle. Zusammen mit Proteinen wirkt es an der Ein- und
Ausschleusung von Signalstoffen mit. Aus ihm entstehen Geschlechtshormone,
Gallensäuren sowie Vitamin D. Weil es als Teil der fettigen Plaque an der
Innenseite schadhafter Gefäße identifiziert wurde, bekam es aber rasch das Image
von purem Gift verpasst. Voreilig, wie viele Wissenschafter heute meinen.
Mittlerweile wird sogar darüber diskutiert, ob Cholesterin eine Rolle bei der
Reparatur dieser Gefäßschäden spielt.
Grobe Risse bekam das Glaubensgebäude, als die künstliche Senkung der
Cholesterinwerte über spezielle Medikamente dauerhaft wenig Effekt zeigte.
Bestes Beispiel ist hier der Wirkstoff Ezetimib
[Ezetrol], der aufgrund seiner stark
cholesterinsenkenden Wirkung ursprünglich als Shootingstar unter den neueren
Arzneimitteln galt. Doch eine im vergangenen November publizierte Studie zeigte,
dass dies keinen Einfluss auf die Kalkablagerungen in den Gefäßen hat.
Während
der Spiegel des „bösen“ LDL-Cholesterins sank, wuchsen diese Plaques sogar
stärker als in der Kontrollgruppe.
Weil Cholesterin ein Bestandteil tierischer Nahrungsmittel ist, wurden gleich
auch die tierischen Fette in Verruf gebracht. Auch hier wird nun immer stärker
zurückgerudert. Erst vor drei Wochen publizierten Wissenschafter der
Universität Harvard die bisher größte Übersichtsarbeit zum Risiko von
gesättigten Fettsäuren in Nahrungsmitteln, wie sie vor allem in tierischen
Fetten wie Butter oder Schweineschmalz enthalten sind. Dafür werteten sie 21
Großstudien mit zusammen 347.747 Teilnehmern aus, die über einen
Zeitraum von fünf bis 23 Jahren beobachtet worden waren. Ergebnis: Es gibt
keinerlei Beweis dafür, dass gesättigte Fettsäuren das Risiko für Herzinfarkt
oder Schlaganfall erhöhen.
Kritiker des Gesundheitswesens meinen, dass generell etwas weniger Angst
verbreitet werden sollte.
„Für Entwarnung fühlt sich aber kaum jemand zuständig“, kritisiert die Hamburger
Gesundheitswissenschafterin Ingrid Mühlhauser, „und Angst ist leider ein sehr
gutes Manipulationsinstrument.“ Wie gut das funktioniert, bewies die
zurückliegende Schweinegrippepandemie, die für einen weltweiten Geldregen bei
den Herstellern der Medikamente und Impfstoffe sorgte.
Wie wenig wir jedoch in Wahrheit über die Konsequenzen weltweiter
Vorsorgekampagnen wissen, illustriert ein Beispiel aus Kanada. Als dort
im vorigen Frühjahr die erste Welle der Schweinegrippe auftrat, machten
die Ärzte eine eigenartige Beobachtung: In den Schulen erkrankten vor allem jene
Kinder, die zuvor gegen die normale Grippe geimpft worden waren. Die
Gesundheitsbehörden gaben vier Studien in Auftrag, um diese These zu prüfen. Die
in der Vorwoche veröffentlichten Resultate erhärten den Verdacht: Tatsächlich
hatten geimpfte Personen im Schnitt ein doppelt so hohes Risiko, an
Schweinegrippe zu erkranken, als solche, die nicht gegen die normale Grippe
geimpft waren.
Wie lässt sich dieser Zusammenhang erklären? Wie kann eine Impfung, die gegen
ganz andere Grippeviren schützt, plötzlich das Infektionsrisiko bei der neuen
Grippe erhöhen? Und welche Auswirkungen hätte so ein Effekt auf die öffentliche
Empfehlung zur Influenzaimpfung? Die Antworten stehen noch aus.
In den vergangenen Jahren wurden die Angebote zur Früherkennung von Krankheiten
erheblich ausgeweitet.
Damit wird in der öffentlichen Wahrnehmung stets eine bessere Heilungschance
assoziiert. Was aber, wenn über die technisch immer raffinierter werdenden
Diagnosegeräte Vorstufen oder Frühstadien von Krankheiten entdeckt werden, die
von selbst wieder ausgeheilt wären – wenn wir nicht danach gesucht hätten?
Ganzkörper-Scan. In welcher Dimension dieses Problem auf uns zukommt,
zeigt ein groß angelegtes Programm, das derzeit im deutschen Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern läuft. In einer Kooperation der Universität Greifswald
mit der Siemens AG sollen 4000 Personen in die Röhre eines
Magnetresonanztomografen geschoben und genauestens durchleuchtet werden. Ein
erster Testlauf mit 200 Freiwilligen wurde bereits absolviert.
Resultat: Um die Gesundheit der Mecklenburger ist es miserabel bestellt.
Nur bei zehn Prozent der Probanden wurden keine krankhaften Veränderungen
entdeckt, diese waren demnach „ganz gesund“. Weitere zehn Prozent konnten nach
einigen zusätzlichen Tests, die zur Abklärung nötig wurden, ebenfalls als gesund
entlassen werden. Aber bei den restlichen 80 Prozent fanden sich unter anderem
ein Hirntumor, verengte Herzkranzgefäße, Brustkrebs in verschiedenen Vorstadien
sowie Tumore in der Lunge und im Bauchraum.
Dabei waren alle Teilnehmer, die sich für diese Studie in die Röhre legten, ohne
akute Beschwerden und zudem noch relativ jung, im Schnitt gerade einmal 48 Jahre
alt. Was wäre hier erst zu erwarten, wenn dieses Ganzkörper-Screening für eine
noch etwas ältere Gruppe der Normalbevölkerung angeboten würde? Und was macht
man mit einer Methode, die mehr als 90 Prozent der Teilnehmer als krank
überführt?
Das deutsche Beispiel zeigt eindringlich, dass sich offenbar nicht alle
Krankheiten als solche manifestieren, sondern viele von selbst wieder
verschwinden.
Bekannt ist dieses Phänomen bislang vor allem von den
Programmen zur Früherkennung des Zervixkarzinoms. Hier werden Zellen
vom Gebärmutterhals abgenommen, fixiert und dann im Labor begutachtet. „Bei
jüngeren Frauen ergeben sich häufig Veränderungen, die Krebsalarm auslösen, aber
nahezu immer von selbst wieder ausheilen“, erklärt Ahti Anttila, der
Koordinator des finnischen Screeningprogramms, gegenüber profil.
Als Konsequenz wurde ein Mindestalter von 30 Jahren eingeführt. Genauso
problematisch sei es, wenn zu häufig untersucht wird, sagt Anttila. „Wir
wissen, dass ein Vorstadium mindestens zehn Jahre braucht, um sich in einen
invasiven Tumor zu verwandeln.“ Die Konsequenz der Finnen: Die Frauen werden
nur alle fünf Jahre untersucht.
Dann jedoch mit persönlicher Einladung und peinlich genauer Qualitätskontrolle,
um zu vermeiden, dass Abstriche schlampig entnommen und die Zellen im Labor
nicht interpretiert werden können. Dies führte sogar dazu, dass die Gynäkologen
aus dem offiziellen Programm ausgeschlossen wurden, weil sie Schulungen
verweigerten.
Die Abstriche werden nun zur allgemeinen Zufriedenheit von Hebammen und
Krankenschwestern durchgeführt.
Mit dieser Taktik erreichte Finnland die weltweit mit Abstand niedrigste
Sterblichkeit beim Zervixkarzinom, hierzulande liegt sie im Vergleich mehr als
doppelt so hoch. In Österreich wird nach wie vor das „wilde Screening“
praktiziert, wo Frauen meist schon ab 18 – und oftmals im Halbjahresintervall –
untersucht werden.
Das Ergebnis sind wesentlich mehr unnütze Eingriffe, mehr Krebstherapien und
Gebärmutteroperationen bei großteils fehlender Qualitätskontrolle. Von einer
Initiative, hier den erfolgreichen Weg der Finnen zu kopieren, ist keine Rede.
„Wir wissen, dass sich die Gynäkologen sehr schwertun, diese natürlichen
Abläufe zu verstehen“, sagt Anttila. „Und manche meinen auch, sie könnten schlechte Untersuchungsqualität dadurch
kompensieren, dass sie öfter untersuchen. Aber das ist ein Irrtum.“
In Österreich wird derzeit intensiv am ersten bundesweiten
Brustkrebs-Früherkennungsprogramm gearbeitet.
Auch in diesem Bereich hinken wir anderen Staaten um viele Jahre hinterher. „Das
hat aber auch Vorteile“, wie Projektleiter Alexander Gollmer von der Gesundheit
Österreich GmbH betont. „Wir können hoffentlich dadurch etliche Fehler
vermeiden, die anderswo begangen wurden.“
Ab Jänner 2011 [tatsächlicher Beginn:Jänner 2014] sollen die ersten Einladungsbriefe an Frauen in der Altersgruppe
zwischen 50 und 69 Jahren verschickt werden. Laut EU-Leitlinie soll damit die
Sterblichkeit beim Brustkrebs langfristig um bis zu 30 Prozent gesenkt werden.
„Das ist aber sicher viel zu optimistisch“, sagt Gollmer.
Jedenfalls werde viel Wert darauf gelegt, Frauen korrekt zu informieren und auch
die Risiken nicht zu verschweigen. Dazu gehört die Übertherapie von Tumoren.
Viele der entdeckten Gewächse befinden sich noch in einem Vorstadium. Die
Krebszellen sind dabei von einer Kapsel umgeben. Niemand weiß, wann – und ob
überhaupt – der Tumor diese Hülle durchstößt. Allein über die Mammografie hat
sich die Anzahl dieser Befunde in den vergangenen Jahren vervielfacht. Diese
Vorstadien siedeln sich zudem meist neben den Milchdrüsen an – und sind
chirurgisch relativ schwer zu fassen. Deshalb entscheiden sich viele Frauen zur
Amputation. Um ganz sicher zu gehen.
Aus:
Profil Nr. 15, 41. Jg, 12. April 2010.
www.profil.at/articles/1014/560/266158/wenn-aerzte-die-folgen-gesundheitswahns