Nebenwirkungen
Dement durch Psychopillen
Ein Knochenbruch ist bei älteren Menschen oft der Anfang vom Ende
Aus: Profil Nr. 15, 41. Jg, 12. April 2010
Wenn Ärzte krank machen. Gesund, bis der Arzt kommt, Seite 101
Im Juni 2009 geschah das erste Verhängnis.
Die 88-jährige Antonia Geier* stürzte unglücklich und brach sich den
Oberschenkelhals.
Die pensionierte Zahnärztin aus Wien-Hietzing wurde ins Wiener AKH
eingeliefert.
Weil sie nach der Operation immer wieder aufstehen wollte, musste sie
ans Bett gebunden werden.
Sie randalierte, bekam schließlich verschiedene Psychopharmaka.
Entlassen wurde sie mit der Diagnose "senile Demenz".
"Für die ganze Familie war das ein
Schock", erzählt die Tochter Evelyn Bohrn*.
"Vor dem Sturz war Mutter geistig vollständig klar. Sie besorgte
für sich und meinen Vater selbstständig den Haushalt."
An Dauermedikamenten hatte sie nur ein
Blutdruckmittel und gelegentlich ein Schlafmittel genommen.
Bei der Entlassung aus dem Spital standen in ihrem Arztbrief dann
folgende [12-] Pillen namentlich angeführt:
"Norvasc, Concor, Citalopram, Pantoloc, Ebrantil, Iterium, ACC,
Haldol,
Furon, Mexalen, Dominal und
Risperdal."
Vier dieser zwölf Medikamente sind
Psychopharmaka, die bei Depressionen, schweren Psychosen oder
Schizophrenie verabreicht werden.
Die betagte Frau sollte diese Mittel
bis zu viermal täglich einnehmen.
"Sie torkelte durch die Wohnung, konnte nicht normal reden und war
komplett inkontinent", berichtete die Tochter.
"Wenn sie einmal zu einem Satz ansetze, schlief sie mittendrin
ein."
Evelyn Bohrn beriet sich mit einer Fachärztin.
Füssigkeitsmangel, eine häufige Demenzursache bei betagten Patienten,
konnte ausgeschlossen werden.
Blieben die Pillen.
Unter ärztlicher Anleitung begann nun der
schrittweise Entzug.
Langsam wurde ihre Mutter wieder klarer.
"Sie fragte plötzlich,
warum wir sie frisieren - das könnte sie ja auch selber."
Nach
drei Monaten war die Patientin annähernd wieder so wie vor dem Unfall.
An Klinik und Rehabilitation hatte sie keinerlei Erinnerung behalten.
Im Oktober passierte dann das nächste Malheur. Antonia Geier brach
sich den zweiten Oberschenkelhals.
Diesmal wurde sie in das Wilhelminenspital eingeliefert. Binnen Kurzem
gab man ihr wieder all die Medikamente,
die im Arztbrief standen.
Der sehr besorgten Tochter erklärten die
Ärzte und Pfleger, dass ihre Mutter die Mittel brauche, um nachts zu
schlafen.
Das sei für den Heilungsprozess unbedingt nötig.
Wieder wurde Frau Geier mit der Diagnose "senile Demenz" entlassen.
Der Arztbrief umfasste mit
14 Medikamenten noch um zwei Präparate mehr
als beim letzten Mal.
Diesmal schaffte es die Tochter nicht, den
Entzug ihrer Mutter allein zu begleiten.
Für die 24-Stunden-Betreuung
musste sie zwei Pfleger engagieren.
"Es dauerte acht harte Wochen,
bis meine Mutter nicht mehr verwirrt und inkontinent war", erzählt
Evelyn Bohrn.
"Am schlimmsten war der Entzug von Dominal. Da litt
sie zwei Wochen an ständigem Schüttelfrost."
Mittlerweile ist Frau Geier wieder "fast die Alte". Lediglich
das Kurzzeitgedächtnis kam nicht mehr vollständig zurück.
Wenn die alte Dame kocht, vergisst sie etwa, die Platte abzuschalten.
Die Eltern sind deswegen kürzlich zur Tochter gezogen.
Eins hat Frau
Bohrn aber mittlerweile gelernt: dass das Schicksal ihrer Mutter bei
Weitem kein Einzelfall ist.
"Seit uns das passiert ist, berichten
rundum im Bekanntenkreis alle von ähnlichen Geschichten.
Einen
halbwegs glücklichen Ausgang, so wie bei uns, gab es da jedoch
nirgends."
Aus: Profil Nr. 15, 41. Jg, 12. April 2010:
"Wenn Ärzte krank machen. Gesund, bis der Arzt kommt", Seite 101
*Name von der Redaktion geändert